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Ein wilder ReigenEin wilder ReigenEin wilder Reigen

Ein wilder Reigen

"Wozzeck" von Alban Berg in der Deutschen Oper am Rhein von Dagmar Kurtz

Ein Mann in rotem Anstaltsoverall, festgeschnallt auf einer Liege in einem aseptischen Raum, der Arzt setzt die Giftspritze. Eine Exekution nach US-amerikanischen Muster findet statt, von Zeugen hinter einer Glasscheibe beobachtet. Die Liege dreht sich in rasendem Wirbel und wie in einem Flashback erinnert sich der Mann der letzten Tage seines Lebens. Mit diesem dramaturgischen Trick startet Stefan Herheim seine Inszenierung von Alban Bergs Oper "Wozzeck" für die Deutsche Oper am Rhein, in der er die Geschichte Wozzecks als Rückblick erzählt. Die einzelnen Szenen nehmen so das Fragmentarische der Vorlage von Büchners Drama "Woyzeck" auf, von dem es keine vom Verfasser autorisierte Endfassung gibt, und das Alban Berg als Vorlage für seine Oper diente. Büchner plante, dass Woyzeck im See ertrinken sollte. Herheim greift auf den historisch verbürgten Fall zurück, bei dem Woyzeck in Leipzig 1824 öffentlich gehängt wurde, und bedient sich einer im 21. Jahrhundert - noch immer - praktizierten Hinrichtungsart.

Dieser Kniff ist es auch, der es Herheim schlüssig ermöglicht, den einzelnen Szenen einen surrealen Touch so geben, wie ja auch Traumsequenzen mitunter bizarre Züge annehmen. Die bei der Exekution anwesenden Zeugen überlagern sich mit den Personen in Wozzecks Leben: der Priester wird zum trashigen Travestie-Clown, beim Doktor und beim Hauptmann verstärken sich die Marotten fast schon zu Manien und alle Charaktereigenschaften werden im Vexierspiegel verstärkt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Marie wiegt ihre leeren Arme als hielte sie ein Kind, wird zum Tanzmariechen. Woyzeck wird zum Voyeur, der den Beischlaf zwischen Marie und dem Tambourmajor beobachtet, der hier mit brutaler Gewalt vollzogen wird und eher einer Vergewaltigung gleicht als einem netten Schäferstündchen. Der Tambourmajor wird zum Cowboy mit Texashut. Die Soldaten werden zu wichsenden amerikanischen Cops. Der Hauptmann und der Doktor werden zu raffaelischen Engelchen, die ein Spruchband hochhalten. Der Zuschauer soll miteinbezogen werden, wenn das Saallicht aufleuchtet. Am Ende jeder Szene wird Wozzeck ein Rasiermesser in die Hand gedrückt, so als sei es zwangsläufig, dass er zum Mörder wird. Herheim deutet so auch auf ein Büchner-spezifisches Thema hin: der Frage nach dem Fatalismus, dem Geworfensein in die Welt.

Ging es im historischen Gerichtsfall noch darum festzustellen, ob Woyzeck zurechnungs­fähig sei, verdichtet Büchner die Geschichte zu einer Sozialstudie von den "armen Leut", die wie Wozzeck sich unter den Oberen zu ducken haben, und dehnt es zur existenziellen Frage aus. Schlüsselszene ist hier das von der Großmutter erzählte Märchen von der absoluten, grenzenlosen Verlassenheit, das aber bei Alban Berg nur kurz gestreift wird und bei Herheimer keine Rolle spielt. Auch arbeitet Büchner mit Volksliedern, aber nicht mit den durch die Romantik verklärten, sondern den einfachen alltäglichen, dadurch stellt er eine Realitätsnähe her. In dieser Form ein Novum in der dramatischen Dichtung der damaligen Zeit.

Auch das Thema der schnelllebigen Zeit ist ein Leitmotiv. Mehrmals wird Wozzeck ermahnt, nicht so zu hetzen. Wozzeck aber ist so gehetzt, weil er sich neben seinem Beruf als Soldat auch noch dem Doktor als menschliches Versuchskaninchen verdingt hat, sich dabei einer einseitigen Gemüse-Diät aussetzt, womit er sich ein Zubrot zur Unterstützung seines unehelichen Kindes mit Marie verdient. Die Hetze, das Getreibensein, wird einerseits als Resultat der Diät dargestellt, anderseits dient die daraus entstandene Konfusion Büchner auch als Entlastungsmotiv für den Mord an Marie. Diese Gehetztheit spiegelt sich bei Herheimer in einem Gewimmel auf der Bühne wider. Auch scheinen ihn nicht so sehr die psychologischen Feinheiten einer aus Eifersucht begangenen Tat zu interessieren, legt er doch den Fokus in seiner Düsseldorfer Inszenierung mehr auf die Triebe, also more sex than crime.

Bemerkenswert ist die stimmliche und schauspielerische Leistung von Bo Skovhus, der die Titelpartei sang, ihm ebenbürtig eine großartige Camilla Nylund als Marie. Ebenso wussten Matthias Klink als Hauptmann und Sami Luttinen als Doktor zu überzeugen. Man muss die Rollenanlage nicht mögen, aber die schauspielerische Leistung von Florian Simson in der Doppelrolle des bigotten Priesters und des schwulen Narren verdient Respekt. Die Düsseldorfer Symphoniker lieferten eine herausragende Interpretation und standen dermaßen im Einklang mit dem Bühnengeschehen, so dass sie den Zuschauern zu bannen wussten. Dafür wurden alle Beteiligten mit ausgiebigem Beifall belohnt.

Oper in drei Akten (15 Szenen)
Text von Alban Berg nach dem Drama „Woyzeck“ von Karl Georg Büchner in der Ausgabe von Karl Emil Franzos

In deutscher Sprache mit Übertiteln

Dauer: ca. 1 ¾ Stunde, keine Pause
 

  • Musikalische Leitung: Axel Kober
  • Inszenierung: Stefan Herheim
  • Bühne und Kostüme: Christof Hetzer
  • Licht: Andreas Hofer
  • Video: fettFilm
  • Chorleitung: Gerhard Michalski
  • Kinderchorleitung: Justine Wanat
     
  • Dramaturgie: Alexander Meier-Dörzenbach
  • Wozzeck: Bo Skovhus
  • Tambourmajor: Corby Welch
  • Andres: Cornel Frey
  • Hauptmann: Matthias Klink
  • Doktor: Sami Luttinen
  • Marie: Camilla Nylund
  • Margret: Katarzyna Kuncio
  • 1. Handwerksbursch: Thorsten Grümbel
  • 2. Handwerksbursch: Dmitri Vargin
  • Der Narr: Florian Simson
  • Mariens Knabe: Mark Vargin
  • Kinderchor
  • Akademie für Chor und Musiktheater
  • Chor der Deutschen Oper am Rhein
  • Düsseldorfer Symphoniker

Bild (c) Karl Forster

Autorin der Kritik: Dagmar Kurtz

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