Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Russische EiszeitRussische EiszeitRussische Eiszeit

Russische Eiszeit

"Drei Schwestern" von Anton Tschechow, Neueinrichtung einer Aufführung des Theaters Freiburg für das Düsseldorfer Schauspielhaus

Copyright: Sebastian Hoppe

Das Eingangsbild lässt bereits erahnen, wie sich das weitere Bühnengeschehen entfalten wird. Leer, abgestumpft und voneinander isoliert hocken die drei Schwestern und ihre alte Haushaltshilfe jeweils allein an einem der im Bühnenraum großzügig verteilten Tische. Das Wohnzimmer der drei Schwestern Irina, Olga und Mascha, früher Treffpunkt der hohen russischen Soldateska, erinnert an den Charme einer Kantine der 60-Jahre und straft die freundlich gemeinten Bemerkungen des Besuchers Oberst Werschinin Lügen. Selbst die mehrfach an der Wand angebrachte identische "Landschaft mit Birke" vermag die Tristesse nicht aufzuheitern. Sie findet ihre Entsprechung in der schwarz-grau-weißen Kleidung der Bewohner und wird allein durch die bunte Kleidung der auch sonst aus dem Rahmen fallenden Natalja, der Verlobten Andrejs, aufgefrischt.

 

Das Unbeteiligte, einander nicht Wahrnehmende ist auch das Kennzeichen dieser Inszenierung von Amélie Niermeyer im Düsseldorfer Schauspielhaus. Kaum einmal führen Worte zu Aktionen. Die Gebote der Gastfreundschaft werden nicht eingehalten: der mehrfach angekündigte Kuchen wird nicht serviert, der gewünschte Tee nicht gebracht. Eine Brandkatastrophe in der Stadt wird zwar zur Kenntnis genommen, führt aber nicht zu adäquaten Gefühlsregungen. Man bleibt an allem unbeteiligt. Geredet wird zwar viel, aber nicht miteinander, sondern nebeneinander her, und wenn man sich nichts mehr sagen mag, wird die Musicbox überlaut aufgedreht. Eine Lethargie ungeahnten Ausmaßes hat sich der Bühne bemächtigt. Als gelobtes Land wird Moskau, die Stadt der Jugendzeit, zitiert, dorthin will man in naher Zukunft aufbrechen, um ein neues, anderes Leben zu beginnen.

Innerhalb der fünf Jahre des Bühnengeschehens beginnt Mascha eine von Anfang an hoffnungslose Affäre mit dem Offizier Werschinin, der an eine kranke Frau und zwei Kinder gebunden ist. Olga wird zur Schuldirektorin, obwohl sie das eigentlich nicht wollte, Irina verlobt sich mit dem ungeliebten Baron Tusenbach, der dann in einem Duell fällt, womit ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft vereitelt werden. Andrej, der Bruder der drei Schwestern, hat sich mit Natalja verheiratet und zwei Kinder gezeugt, seine und die Hoffnungen der Schwestern auf eine Professur in Moskau damit aber begraben. Nur Natalja hat sich vom unsicheren Mädchen zur herrischen Frau entwickelt und ihr Ziel erreicht, die Schwestern sind aus dem gemeinsamen Haus vertrieben, durch die Spielschulden des Bruders quasi enteignet, und als nächstes plant sie das Abholzen einer dunklen Tannenallee, um helle Blumen zu pflanzen. Wie im "Kirschgarten" ist auch hier das Abholzen ein Motiv Tschechows, das das Anbrechen einer neuen Zeit kennzeichnen soll. Die Garnison zieht aus dem Ort ab und die Schwestern bleiben allein zurück.

 

Ganz konsequent inszeniert Niermeyer die Leere und Hoffnungslosigkeit der tschechowschen Figuren. Ihr Konzept wurde von den Schauspielern präzise umgesetzt. Die Figuren gehen nicht auf die Äußerungen der anderen ein, ein Dialog entspinnt sich nicht, die Gespräche laufen ins Leere. Sie agieren emotionslos, menschliche Nähe stellt sich nicht ein. Auch der Bühnenraum verkleinert sich zunehmend, bis für die Schauspieler gar kein Raum mehr zum Agieren bleibt. Gezeichnet wird eine völlig erstarrte Gesellschaft. Die Seelenlage der Figuren wirkt auf diese Weise dermaßen kühl und ohne wirkliche menschliche Tiefe, dass es leider auch den Zuschauer kalt und unberührt lässt und er sich kein Mitgefühl abzuringen vermag.

 

Inszenierung: Amélie Niermeyer

Bühne: Robert Schweer

Musik: Cornelius Borgolte

Darsteller(in): Miguel Abrantes Ostrowski, Henning Beckmann, Rainer Galke, Nadine Geyersbach, Helmut Grieser, Mariannne Hoika, Claudia Hübbecker, Gabriele Köstler, Thomas Krause, Winfried Küppers

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 18 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

JAGENDE HORN-PASSAGEN -- Neue CD von Helmut Lachenmann "My Melodies" bei Naxos (BR Klassik - musica viva)

Ein kompositorischer Umgang mit dem Phänomen Melodie steht im Mittelpunkt der Komposition "My Melodies" für acht Hörner und Orchester des 1935 in Stuttgart geborenen Helmut Lachenmann. Unter der…

Von: ALEXANDER WALTHER

VOLLENDETER FORMALER AUFBAU -- Bachs Matthäus-Passion mit den Stuttgarter Hymnus-Chorknaben in der Stiftskirche STUTTGART

Für Karfreitag 1729 schrieb Johann Sebastian Bach seine "Matthäus-Passion" BWV 244 und arbeitete sie dann noch dreimal um. Der vollendet ausgewogene Aufbau dieses Meisterwerks kam in der Aufführung…

Von: ALEXANDER WALTHER

SCHONUNGSLOSE SELBSTERKENNTNIS --- John Gabriel Borkman im Schauspielhaus Stuttgart

Henrik Ibsen ist der Dramatiker der schuldhaft versäumten Selbstemanzipation. Er setzt sich schonungslos mit den Lebenslügen der Menschen auseinander. Seiner Devise "Dichten ist Gerichtstag halten…

Von: ALEXANDER WALTHER

DRAMATISCH GEBALLTER ABLAUF --- Verdi Operngala im Forum am Schlosspark Ludwigsburg

Vorwiegend Spätwerke Giuseppe Verdis standen bei dieser sehr gelungenen Operngala auf dem Programm. Die vorzüglich musizierende Württembergische Philharmonie Reutlingen unter der inspirierenden…

Von: ALEXANDER WALTHER

FEINSTE SCHATTIERUNGEN DES GEFÜHLS -- Stuttgarter Philharmoniker unter Gabriel Feltz mit Berg und Brahms in der Liederhalle Stuttgart

Wieder konnte man als "Minutenstück" eine interessante Komposition eines Studenten der Kompositionsklasse von Prof. Marco Stroppa an der Stuttgarter Musikhochschule hören. Der 1987 in Mailand geborene…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑