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Ein Kunstraub der Extraklasse

„Wo fängt die Wand an?“ von Madeleine Giese wurde mit großem Erfolg in der Pfalzgalerie Kaiserslautern uraufgeführt.

 

Der Albtraum jedes Kunstmuseums, hier ist er schaurige Wirklichkeit. Im Impressionistensaal fehlt der „Frühlingsmorgen“ von Max Slevogt, er muss gestohlen worden sein. Schlimmer noch. An seiner Stelle macht sich ein museumsfremdes, komplett weißes Bild des umstrittenen Zeitgenossen Ontrias breit. Auf die doppelte Peinlichkeit stößt der stellvertretende Museumsdirektor Dr. Mirtz ausgerechnet heute Vormittag, als er prominenten Besuch durch den Saal geleitet, nämlich die neue Kulturbürgermeisterin und einen Sponsor aus der Wirtschaft, dessen heißbegehrte Finanzspritze den Ankauf eines weiteren Slevogt-Highlights ermöglichen könnte.

 

Dr. Mirtz fällt fast in Ohnmacht vor Entsetzen über den Diebstahl und die modernistische Entweihung der Lücke durch den Ontrias. Aber just dieses schlohweiße Machwerk, das eine Kunstströmung der sechziger Jahre recycelt, scheint den Wirtschaftsboss gewaltig zu interessieren. So gewaltig, dass er es geradezu versessen in Schutz nimmt. Die Bürgermeisterin äußert sich auch nicht besonders staatstragend, sondern mit neugierigen Fragen zu allen möglichen Hintergründen. Und der Museumswärter mischt sich ständig vorlaut in die aufgeregte Diskussion, die zwangsläufig viele Elemente der Kunstdebatte unserer Zeit zur Sprache bringt.

 

Mäzen und Bürgermeisterin möchten die Polizei alarmieren. Dr. Mirtz wird bei diesem Gedanken vollends hysterisch und verzappelt sich rettungslos im Bestreben, den Skandal bis auf weiteres unter der Decke zu halten. Jeder hat offenbar seine eigenen Interessen und will sie jetzt durchsetzen, auf Teufel komm raus. Die Situation eskaliert, man scheut sogar vor Tätlichkeiten nicht zurück - bis alle Masken, plumps, von den Gesichtern fallen. Am Schluss erscheint unweigerlich: die Wahrheit. Weder der Finanzier noch die Bürgermeisterin sind was sie vorgeben. Dr. Mirtz erst recht nicht – und schon gar nicht der „Frühlingsmorgen“, der sich gründlich entzaubert, noch bevor man überhaupt weiß, ob er je wieder auftauchen wird.

 

Die kriminalistische Lösung sei hier nicht preisgegeben. Was ich aber sofort verraten will: es ist ein vortreffliches Stück, das am 8. Mai 2016 im Slevogt-Saal der Pfalzgalerie Kaiserslautern uraufgeführt wurde. Die bekannte Autorin Madeleine Giese, welche kürzlich den Roman "Galgenheck" und davor eine Reihe spannender Kriminalromane veröffentlichte, hat mit ihrem Bühnen-Erstling etwas Besonderes geschafft. Sie hat den tragikomischen Kunstkrimi „Wo fängt die Wand an?“ dem Aufführungsort und den vier Darstellern passgenau auf den vielgestaltigen ‚Leib‘ geschrieben - und gleichwohl ein allgemein spielbares, gut konstruiertes Stück Theater hervorgebracht. Ein Stück, das Spannung, Unterhaltung und auch ernste Einsichten – nicht zuletzt über die Verletzlichkeit der Künstlerseele - mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit verbindet.

 

Die Darsteller: Vor Jahresfrist hat eine frisch gegründete Theatergruppe, die sich ‚Spielvereinigung Widrige Umstände’ nennt, den theatralischen Dauerbrenner "Kunst" von Yasmina Reza ebenfalls in der Pfalzgalerie erfolgreich aufgeführt, was verschiedene interessante Gastspiele nach sich zog. Rainer Furch, Christian Higer und Stefan Kiefer spielten die drei Freunde, deren Streitgespräch über ein monochrom weißes Bild mittelschwere Beziehungskonflikte heraufbeschwört.

 

Die neue Produktion der ‚Spielvereinigung‘ knüpft an Rezas Thematik an, freilich in völlig anderer Ausrichtung und Form. Zudem hat die Männergruppe mit Natalie Forester eine ausgezeichnete weibliche Verstärkung bekommen. Das vierte Blatt in diesem Schauspieler-Kleeblatt der Virtuosen. Die vier steigern dank ihrer Hingabe, ihrem künstlerischen Zusammenklang und ihren vereinten Kräften das Spiel zu einer homogenen Glanzleistung. Wesentliche Unterstützung leistete beim Produktionsprozess die Autorin Madeleine Giese, indem sie sich auch als Regisseurin bewährte - und sogar eine klitzekleine hübsche Szene als Schauspielerin übernahm.

 

Christian Higer gibt ganz wunderbar den stellvertretenden Museumsdirektor, ein erbärmliches Nervenbündel, todunglücklich als Kunsthistoriker, der lieber Maler wäre und seiner Leidenschaft nur mit dem Fälschen von Bildern im Stil der Großen zu frönen wagt, was irgendwann furchtbare Komplikationen zeitigen muss.

 

Stefan Kiefer ist der allgegenwärtige Museumswärter. Er kommuniziert mit den Kunstwerken auf du und du, so bodenständig und doch offen und sensibel, dass er sich im Lauf der Handlung zu einem poetisch-launigen Spielmachergeist im Museumsluftreich der Künste entwickelt. Ein feiner schauspielerischer Drahtseilakt, der ihm überzeugend gelingt.

 

Rainer Furch brilliert mit der Figur des angeblichen Wirtschaftsmagnaten, der sich unter dem Druck des Geschehens als - Maler Ontrias entpuppt. In darstellerischer Hochform spielt er die Gegensätzlichkeiten der Rolle intensiv und glaubwürdig aus. Ihm gehört der erschütterndste Moment des Abends: wenn mit dem geklebten Schnurrbart auch die Mimikry des Geldmenschen abblättert – und der Künstler zum Vorschein kommt. Mehr noch: der Inbegriff des Künstlers, der ein Leben lang um die vollkommene Form seiner Arbeit ringt, der nie mit sich zufrieden ist, immer von Sehnsucht gequält, immer geplagt von Angst um die Wirksamkeit seiner Kunst in der wetterwendischen Zugluft des Zeitgeists.

 

Und nun zur Dame im Gruppenbild: Natalie Forester als vermeintliche Kulturpolitikerin, in Wirklichkeit Enthüllungsjournalistin auf Recherche. Sie ist enorm attraktiv, was bei den Männern augenblicklich testosterongesteuerte Wallungen hervorbringt und ihr den nötigen Spielraum verschafft, um die Doppelbödigkeit ihres Auftritts voll Charme, Verstand und Spürsinn auszureizen. Das tut sie gekonnt und in jeder Sekunde glaubhaft. Umso größer ist der allgemeine Schock angesichts der Entdeckung, dass sie für ihren Undercover-Termin im Museum ganz brutal die echte Bürgermeisterin mit KO-Tropfen außer Gefecht gesetzt hat! Aber so ist es nun mal. Bedenkenlos und souverän verkörpert Natalie Forester als Reporterin die Öffentlichkeit, in der sich die Kunst immer wieder beweisen will, beweisen muss. Ja, die Öffentlichkeit. Mit ihrer Anziehungskraft und ihren Abgründigkeiten.

 

Am Ende stürmischer Applaus für eine tolle Produktion, der man nur viele Wiederholungen wünschen kann.

 

Weitere Vorstellungen in der Pfalzgalerie Kaiserslautern am 21. und 22. Mai 2016

sowie 4., 5., 18. und 19. Juni (alle 19 Uhr)

 

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