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Virtuoses Vexierspiel

Roland Schimmelpfennigs "Die Frau von früher" im Schauspielhaus Köln

"Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals

gutzumachen." Ob Roland Schimmelpfennig (Jahrgang 1967) an diesen berühmten Schlußsatz aus Kafkas Erzählung "Ein Landarzt" gedacht hat, als er sein Drama "Die Frau von früher" schrieb? Sicher ist, dass auch bei ihm das Verhängnis direkt durch den Hauseingang seinen Anfang nimmt. Was geschieht da? Ein Ehepaar (nebst fast erwachsenem Sohn) steckt im Umzug, 19 Jahre gemeinsames Leben, in Kisten verpackt, warten auf den Abtransport nach Übersee. Mitten hinein in diesen ganz normalen Alptraum kündigt die Türklingel einen anderen und am Ende tödlichen an - was freilich die Beteiligten zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen können.

 

Sprachlosigkeit herrscht anfangs allerdings schon, als in der Wohnungstür eine Frau erscheint und sich als eine längst vergessene Jugendliebe von Frank, dem Mann, outet. Dessen vor 24 Jahren gegebenes Versprechen gedenke sie jetzt einzufordern, das seither Geschehene, Ehe, Familie usw., habe dagegen als null und nichtig zu gelten. Der Angesprochene reagiert nervös, peinlich berührt, Claudia, die Gattin, alsbald zickig und eifersüchtig - und Romy, eben die Frau von früher, steht da, unbewußt-selbstbewußt aufs Ganze gehend, wie eine moderne Mischung aus Kleists "Käthchen von Heilbronn" und Ibsens "Frau vom Meer".

 

Es ist also angerichtet in Schimmelpfennigs Szene: Im Publikum kommen die ersten Lacher auf, man stellt sich auf ein Stück überdrehten Boulevardtheaters ein mit vielen realistischen Alltagsschnipseln und versöhnlichem Ausklang angesichts des eigentlich doch ganz sympathischen Trios da auf der Bühne. Was folgt, ist etwas ganz anderes, nämlich der Einbruch des Unheimlichen, am Ende mythisch Affektgeladenen in eine Kleinfamilie, deren Harmonie schon lange vor dem Auftauchen des Störenfrieds erledigt gewesen zu sein scheint. Zug um Zug treten verdrängte Aggressionen und zwischenmenschliche Abgründe ans Tageslicht. Ein Steinwurf, vom Sohn Andi auf die fremde Frau abgefeuert, setzt die tödliche Ereigniskette in Gang, in deren Verlauf der Eindringling Romy mehr und mehr zur rächenden Medea mutiert. Am Ende finden Sohn und Mutter einen grausamen Tod, der Vater verreckt zuckend in einer Behausung, aus der es ohnehin keinen Ausweg mehr zu geben scheint.

 

Dies alles wäre wohl kaum mehr als eine melodramatische Klamotte, hätte Schimmelpfennig das Ganze nicht in einer überaus raffinierten Weise erzählt, die dem Zuschauer das Eintauchen in die existenziellen Tiefenschichten des Geschehens ermöglicht. Indem der Autor Szenen wiederholt und auf bereits Gezeigtes unter verändertem Blickwinkel mit neuen Informationen zurückblendet, setzt er ein virtuoses Vexierspiel in Gang, in dem fast nichts so ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Stets glaubt der Zuschauer, es mit Fragmenten und Halbwahrheiten zu tun zu haben. Nicht alles wird restlos aufgeklärt, auch wenn Andis Freundin Tina, eine Art "epische" Sonderfigur, durch ihre Berichte so manches Fragezeichen beseitigt. Am Ende ist die rächende Romy auf ebenso geheimnisvolle Weise verschwunden, wie sie am Anfang aufgetaucht war.

 

Mit seiner Inszenierung von Schimmelpfennigs Theaterstück, das 2004 am Wiener Burgtheater uraufgeführt und seither vielfach nachgespielt wurde, hat Jürgen Gosch dem Kölner Schauspielhaus zum Abschluß der Saison einen großen Theaterabend beschert. Dem kunstvollen Arrangement von Zeichen, wie sie der Text zelebriert, setzt die Regie ein betont körperbezogenes, die Extreme konsequent herausarbeitendes Spiel entgegen, wobei die Darsteller hier gleichzeitig das Um- und Rückbauen der Szene zu besorgen haben. So manche Pause gerät dabei leider auf Kosten der Handlung zu lang und aktionistisch. Auch sonst wirkt einiges unausgereift, so die als Sadomaso-Ritual zu breit angelegte Szene, in der Romy den Sohn Andi umbringt. Dem insgesamt überaus eindringlich agierenden Ensemble, allen voran die wunderbare Anja Laïs als Romy Voigtländer, hätte man seitens der Regie ein paar mehr leise Töne gewünscht. All dies mindert jedoch nicht den imponierenden Gesamteindruck einer Inszenierung, die bei der Premiere am 12. Juni 2006 mit einigen Buhs und vielen Bravos und auch in der (trotz Hitze und Fußball-WM recht gut) besuchten Vorstellung am 18. Juni mit lang anhaltendem Applaus bedacht wurde.

 

Premiere: 12. Juni 2006

Vorstellungen auf dem laufenden Spielplan.

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