Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Deutschsprachige Erstaufführung: "Am laufenden Band - Aufzeichnungen aus der Fabrik" nach dem Roman von Joseph Ponthus - Schauspielhaus BochumDeutschsprachige Erstaufführung: "Am laufenden Band - Aufzeichnungen aus der...Deutschsprachige...

Deutschsprachige Erstaufführung: "Am laufenden Band - Aufzeichnungen aus der Fabrik" nach dem Roman von Joseph Ponthus - Schauspielhaus Bochum

Premiere Fr.24.03.2023, 19:30 Uhr, Kammerspiele

Den Karton mit 20 kg Tofu öffnen. Die Dreikilobeutel auf die Arbeitsfläche legen. Mit dem Cutter öffnen. Den Tofu senkrecht auf ein waagerechtes Stahlsieb packen. Brackwasser abtropfen lassen. Von vorne beginnen. Neun Stunden lang. Joseph Ponthus verwischt in seinem Versroman gekonnt die Grenzen zwischen Autor, Erzähler und fiktiver Figur. So steht Ponthus selbst am Band und schaufelt sich am nächsten Tag durch 40 Tonnen gefrorener Garnelen.

 

Er schiebt Schicht um Schicht um Schicht, entfernt kleinste Fleischreste aus den feinen Zahnrädern gewaltiger, hämmernder Fleischmaschinen. Die gleichförmige Wiederholung der brutalen Einfachheit. Die Fabrik. Ein Handschlag gleicht dem nächsten.

Für zweieinhalb Jahre geht Joseph Ponthus an das Fließband. Verpackt Fertiggerichte. Sortiert Fische. Reinigt nachts die Schweine-Zerlege-Halle vom Blut und Fett der geschlachteten Tiere. Allerdings tut er das als ein idealisierender Tourist, der überzeugt davon ist, die Fabrik verlassen zu können, wenn es an der Zeit ist. Denn Ponthus bleibt in einer privilegierten Distanz, aus der er – manchmal verklärt, manchmal verherrlichend, aber immer solidarisch – auf einen Ort blickt, der die Menschen kompromisslos verschleißt, die das Fabrik-Band am Laufen halten.

Um den extremen Bedingungen standzuhalten, orientiert sich der ehemalige Sozialarbeiter an seinen literarischen Vorbildern, bildet sich mit romantischen Reflexionen einen Weg durch den brutalen Fließbandalltag. Anschließend berichtet er beinahe zärtlich und mit viel Humor von seiner Zeit in den Fabriken und von „seinen“ Arbeitern. So versucht der Erzähler nicht nur sich, sondern auch den zahllosen und unsichtbaren Menschen, die nicht den Luxus haben, nur auf Zeit in der modernen Sklaverei der Lebensmittelindustrie zu arbeiten, eine Sprache zu verleihen. Und er verbindet dadurch die Stimme des Arbeiters mit der des Intellektuellen.

In seinem 2019 erschienenen autofiktionalen Text Am laufenden Band – der zugleich Manifest, Gedicht, Roman und Aufschrei ist – verhandelt der französische Autor Joseph Ponthus überraschend positiv den Teil der Arbeit, derer Nutznießer wir alle sind, die sich aber im toten Winkel der Gesellschaft befindet. An den Rändern unseres Kapitalismus stehen die Fabriken der Massenproduktion, die die Länder mit grammgenau verpackten Prinzessbohnen und vorgeschälten Gambas versorgt. Doch auf wessen Schultern lastet der als selbstverständlich genommene Luxus?

Regisseur Tom Schneider, der in Bochum bereits Bilder deiner großen Liebe und Die Hydra inszenierte, macht sich anhand des preisgekrönten Romans auf eine theatral-musikalische Spurensuche in die Schattenbereiche unserer Arbeitswelt – und nach dem, was davon übrigbleiben wird.
 
aus dem Französischen von Mira Lina Simon und Claudia Hamm

    Regie: Tom Schneider
    Bühne: Nadja Sofie Eller
    Kostüm: Andrijana Trpković
    Musik: Daniel Nerlich
    Lichtdesign: Sirko Lamprecht
    Dramaturgie: Marvin L. T. Müller

    Mit: Dominik Dos-Reis, Michael Lippold, Karin Moog
    Musik und Soundinstallation: Daniel Nerlich

Mi.29.03.
19:30
10-Euro-Tag
So.16.04.
19:00

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 14 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

DIE SONNE ALS EINHEIT -- "Sonne/Luft" von Elfriede Jelinek im Kammertheater Stuttgart

Sonne und Luft stehen im Mittelpunkt dieses vielschichtigen Stücks von Elfriede Jelinek, das den Irrungen und Wirrungen des Menschen nachgeht. Der Umgang mit der Umwelt und dem Klimawandel spielt in…

Von: ALEXANDER WALTHER

ERGREIFEND UND TIEFGRÜNDIG -- Bach-Kantaten mit der Gaechinger Cantorey im Forum am Schlosspark Ludwigsburg

Das vorletzte Konzert der Reihe "Vision Bach" stand unter dem Motto "Zum Himmel wandern". Unter der inspirierenden Leitung von Hans-Christoph Rademann musizierte die Gaechinger Cantorey zunächst die…

Von: ALEXANDER WALTHER

EIN HAUCH VON RENAISSANCE -- "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Kurt Weill und Bertolt Brecht in der Staatsoper STUTTGART

Die Inszenierung von Ulrike Schwab wartet mit einer Überraschung auf, denn das "Jüngste Gericht" von Michelangelo ist Teil des einfallsreichen Bühnenbildes von Pia Dederichs und Lena Schmid. Die…

Von: ALEXANDER WALTHER

BEWEGENDE VISUELLE STEIGERUNG -- Stuttgarter Ballett mit Tschaikowskys "Schwanensee" in der Staatsoper Stuttgart

Unsterblich ist die Choreographie John Crankos zu Peter Tschaikowskys "Schwanensee"-Ballett aus dem Jahre 1963 geworden, die jetzt wieder in Stuttgart zu sehen ist. In Bühnenbild und Kostümen von…

Von: ALEXANDER WALTHER

ZAUBER DER PANFLÖTE --- Neue CD "Impressions" bei Dabringhaus & Grimm

Als eine "Liebe auf den ersten Blick" bezeichnet Sebastian Pachel seine erste Begegnung mit der Panflöte, wovon man sich bei dieser Einspielung überzeugen kann. Für die vorliegende Aufnahme…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑