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DER VORFALL von Deirdre Kinahan - Stadttheater Bremerhaven

PREMIERE 17. Februar 2024, 19:30 Uhr // Großes Haus

Glenealy ist ein kleines Dorf in Irland. Sandra ist hier aufgewachsen und nach dem College in Dublin nach London ausgewandert. Dort hat sie Ray kennengelernt. Jetzt ist sie mit ihm übers Wochenende in ihrem Elternhaus, um es zu verkaufen. Nach dem Tod ihrer Eltern verbindet Sandra nicht mehr viel mit der alten Heimat. Denkt sie. Denn nach einem Wiedersehen mit ihrer Jugendfreundin Dairne tauchen wie verabredet die Maklerin Linda und ihr Mann Larry zur Hausbesichtigung auf.

 

Copyright: Stadttheater Bremerhaven

Und von einer Sekunde auf die andere ist in Sandras Leben nichts mehr wie vorher. Sie ist Larry vor 20 Jahren schon einmal begegnet. Deirdre Kinahan erzählt einfühlsam und ungeschönt zugleich davon, dass sexuelle Gewalt emotional nie verjährt. Das Stück «Der Vorfall» handelt von sexualisierter Gewalt gegen Frauen, der daraus resultierenden Traumatisierung und dem Kampf eines Opfers um ein selbstbestimmtes Leben. Lesen Sie dazu einen Text der Autorin Deirdre Kinahan.

Eine Standortbestimmung

Mir kommt vor, als ob Irland gegenwärtig eine Art von Standortbestimmung durchmacht. Jüngste Referenden über Bürgerrechte, Gerichtsprozesse zu Ethik in der Politik und Korruption, Untersuchungen von kirchlichem und institutionellem Missbrauch – alles das zeigt eine gewaltige Verschiebung des Denkens in Irland an. Der eiserne Griff des Katholizismus und der erstickende Absolutismus von Klassenzugehörigkeit und Konvention fangen an sich aufzulösen und nach meinem Empfinden ist das eine gute Sache. Leider gibt es zu viele Gebiete, auf denen wir immer noch scheitern und zwar spektakulär scheitern. Im Stück Der Vorfall möchte ich unsere kollektive Reaktion auf Anklagen der Vergewaltigung und der sexuellen Übergriffe untersuchen sowie unser vollständiges rechtliches, gesellschaftliches und kulturelles Scheitern beim Versuch, die grässlichen Folgen dieser Verbrechen zu bewältigen.

Also habe ich mich entschieden, das Opfer eines sexuellen Übergriffs in eine Situation zu bringen, in der es – oder sie oder er – diesem Missbrauch ins Auge sehen und anschließend beobachten kann, wie die anderen Figuren sich drehen und wenden, so wie „Überlebende“ es oft beschreiben. Ich wollte ein Gefühl dafür entwickeln, wie es ist, der Anstiftung zu genau dem Verbrechen beschuldigt zu werden, das an einem selbst begangen wurde. Wie es ist, ständig angezweifelt zu werden. Wie es ist, unaufhörlich wegen dieses Verbrechens beurteilt und abgestempelt zu werden. Wie es ist, dabei zuschauen zu müssen, wie die Leute, die von deiner Anklage betroffen sind, dir deine Geschichte, deine Wahrheit und deine Würde stehlen, und wie schnell die Reaktion auf all das sich nicht mehr um dich dreht, sondern um sie und darum, wie deine Anklage sie in Mitleidenschaft zieht. Ich wollte ein Gefühl dafür entwickeln, wie es ist zu verschwinden. In einem Abgrund zu verschwinden, in dem jeder gesellschaftliche, kulturelle und rechtliche Widerhall sich zu verschwören scheint, um dich mit Schweigen, Scham und Verleugnung zuzudecken.

Es war das Schreiben des Stückes, das mein Verständnis dafür geweckt hat, wie das Unterlassen einer Reaktion beeinflusst wird von Geschlechterrollen und der kulturellen Erwartungshaltung der jeweiligen Rolle. Jungs sind halt Jungs, richtig? Und brave Mädchen betrinken sich nicht oder verirren sich auf einer Party nicht in Schlafzimmer, außer wenn sie sexuell angegriffen oder vergewaltigt werden wollen. Es klingt absurd. Ich muss sagen, dass es mir schwerfällt, diesen Satz auch nur hinzuschreiben. Aber wie viele Anrufer im Radio, Autoren von Meinungskolumnen, Nachbarn, Rechtsanwälte oder sogar verwirrte Bischöfe geben dem Eindruck Raum, dass das Opfer eines sexuellen Übergriffs irgendwie mitschuldig ist, wenn es ihn nicht sogar selbst provoziert hat. Es ist bemerkenswert, wie der Person, die im Zentrum eines Verbrechens steht, die Kontrolle entzogen wird, wie man darüber spricht – die Erzählung wird umgeformt, bis sie in die Bedürfnisse derer passt, die das Opfer umgeben.

Es ist bemerkenswert, wie wir lügen, fortwährend lügen, und zuallererst uns selbst belügen, was ein weiterer Punkt ist, den ich mit diesem Stück erforschen will. Denn der Täter eines sexuellen Übergriffs gesteht sein Verbrechen äußerst selten, nimmt es selten als solches wahr und ist in den meisten Fällen nie gezwungen, Rede und Antwort zu stehen. Und so werden Sie sehen, wie jede Figur in Der Vorfall versucht, die Kontrolle über die Geschichte zu übernehmen, sie auf ihre Weise neu zu erschaffen, damit sie in ihre Selbstwahrnehmung passt. Sie werden sehen, wie manche Figuren fortgesetzt lügen, und wie gesagt sich selbst belügen. Die Fähigkeit des Menschen, Dinge zu leugnen wird nie aufhören, mich in Staunen zu versetzen, besonders, wenn sie durch Schweigen gedeckt wird. Schweigen ist das eigentliche Zentrum von Der Vorfall, weil Schweigen unglücklicherweise die Lieblingsreaktion der „Überlebenden“ ist, wie auch von Tätern und auch von uns allen. Schweigen bedeutet, dass wir vielleicht gar nicht reagieren müssen.
Deirdre Kinahan, September 2018 (Übersetzung: Peter Hilton Fliegel)

Deutsch von Boris Motzki / in einer Bearbeitung von Peter Hilton Fliegel

INSZENIERUNG                            Christina Gegenbauer
BÜHNE, KOSTÜME & Video    Frank Albert
MUSIK                                            Nikolaj Efendi
DRAMATURGIE                            Peter Hilton Fliegel

SARA                                             Marsha Zimmermann
RAY                                                Henning Bäcker
Dairne                                          Ulrike Fischer
LINDA                                           Julia Lindhorst-Apfelthaler
LARRY                                           Marc Vinzing

Die weiteren Termine:  
22.02.204 / 03.03.2024 (15:00 Uhr) / 08.03.2024 / 21.03.2024 / 07.04.2024 / 03.05.2024 / 17.05.2024

 

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