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Münchner Theater in Hochform

„Orpheus steigt herab“ von Tennessee Williams und „Der Revisor“ von Nikolai Gogol

Copyright: Foto Thomas Aurin

 

Die beiden großen Schauspielhäuser Münchens blühen in farbenprächtiger, wagemutiger, geradezu berstender Vitalität. Mit tollen Stücken und absolut hervorragenden Regisseuren und Darstellern. So jedenfalls an den beiden Abenden, die ich zur Jahreswende 2012/2013 erlebte.

 

Zuerst in den Münchner Kammerspielen das 1957 geschriebene Stück „Orpheus steigt herab“ von Tennessee Williams, eine Manifestation der Trostlosigkeit, die sich zur Tragödie menschlicher Unzulänglichkeit und Niederträchtigkeit entwickelt.

 

Ein ödes Kaff im amerikanischen Süden, vegetierend im Muff der Nachkriegszeit. Eine zusammengewürfelte Immigrantengesellschaft, die in diesem Klima von Existenzangst und Intoleranz immer wieder Halt darin sucht, einen neuen Fremden niederzumachen. Lady Torrance ist die Tochter eines Einwanderers, ihr Vater fiel vor Jahren einem Brandanschlag brutaler Rassisten zum Opfer. Zufällig erfährt sie nach langer Zeit, dass ihr eigener, jetzt todkranker Ehemann damals die Schandtat anführte. In ihrer tiefen Getroffenheit beschließt sie, ihr Leben zu verändern, sich mit dem blutjungen, aus der Fremde hergekommenen Val Xavier zusammenzutun und mit ihm das Gartenrestaurant des Vaters neu zu eröffnen. Die Folgen können nur tödlich sein.

 

Auf der nacktschwarzen Bühne von Eva Maria Bauer gibt es fast nur ein schepperndes Kettenkarrussell unter einer traditionell geschmückten Jahrmarkts-Überdachung, das im Lauf des Stücks von den Akteuren erst aufgebaut werden muss und dann immer mehr zum Stangenlabyrinth für die todbringende Handlung wird.

 

Was der Regisseur Sebastian Nübling mit seinen Darstellern aus der desolaten Schreckensgeschichte macht, ist so großartig, dass jede Minute für den Zuschauer ein Glückserlebnis bedeutet. Er reißt das Stück aus jedem einengenden Zeitbezug, er zündet seine szenische Fantasie in tausend gelungenen Überraschungen und gestaltet aus dem todtraurigen Geschehen eine ebenso facettenreiche wie allgemeingültige Schilderung menschlichen Versagens.

 

Die Schauspieler sind herrlich, allen voran Wibke Puls als Lady Torrance und Risto Kübar als Val.

 

Premiere 29. September 2012

 

„Orpheus steigt herab“ ist zum Berliner Theatertreffen 2013 eingeladen.

 

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Auch „Der Revisor“ von Nikolai Gogol, der am 22. Dezember 2012 im Residenztheater München Premiere hatte, spielt in einem Provinzkaff, einem russischen allerdings, und über 100 Jahre früher, zur finstersten Zarenzeit. Hier ist sich niemand fremd, man hockt seit Menschengedenken beieinander, man ist sich nah, zu nah, man ist korrupt, charakterlos, gierig und gewissenlos geworden. Eine Hand wäscht die andere, einer schont den anderen, um gleichwohl hinterrücks über ihn zu lästern. Insgesamt lebt man leidlich gut damit.

 

Aber auch hier entzündet sich das Drama um die Ankunft eines blutjungen Auswärtigen, wenn auch auf ganz andere Art. Aus Sankt Petersburg kündigt sich ein kaiserlicher Revisor an, was den Bürgermeister und die ganze korrupte Oberschicht der Kleinstadt in Angst und Schrecken versetzt, denn dieser Prüfer würde ja von Amts wegen die hier eingefressene Misswirtschaft und Gewinnsucht auf dem Rücken der Schwachen aufdecken. Furchtbare Strafen sind zu erwarten. So kommt es, dass in blinder Angst und Hektik ein zufällig im Gasthaus herumlungernder, zahlungsunfähiger junger Mann fälschlich für den Revisor gehalten wird. Was jetzt abläuft ist ein so schamloses, vor nichts zurückschreckendes Umschwänzeln und Umschmeicheln und Schmieren der vermeintlichen Respektsperson von Seiten der Stadt-Oberen, dass einem der Atem vergehen will. Bis zur totalen Erschöpfung und Demaskierung aller, nachdem der falsche Revisor rechtzeitig das Weite gesucht hat und die Kunde vom Eintreffen des echten Revisors drohend am Horizont erscheint.

 

Das Stück ist eine der bittersten, genialsten Komödien aller Zeiten. Die lange Aufführungstradition bedeutet eine Herausforderung an jede Neu-Produktion. Regisseur Herbert Fritsch macht seinem frisch-aufschießenden Ruhm in der deutschen Bühnenwelt alle Ehre. Seine Inszenierung ist eine abgründige Clownerie, ein unglaublich lustiger, komödiantisch überhöhter, aber auch verzweifelter Rausch szenischer Einfälle und Unverschämtheiten. Auch er weitet das Stück aus der Enge des Zeitkorsetts und macht es zur turbulenten Comédie Humaine, zur 'Commedia dell'arte der menschlichen Charakterschwächen'. Herbert Fritsch ist gleichzeitig für das luftig-leichte Bühnenbild aus durchsichtigen Plastikplanen zuständig. Die wunderschönen, pastellfarbenen Kostüme schuf Victoria Behr.

 

Das Ensemble ist geradezu überbordend gut aufgelegt. Auch wenn nach meinem Dafürhalten dem Hauptdarsteller Sebastian Blomberg die letzte Prägekraft für die Rolle des Pseudo-Revisors fehlt, auch wenn er ein paar Jährchen zu reif, zu behäbig wirkt für diese Figur, die immer wieder als frecher, bedenkenloser Jungspund von höchstens 25 Jahren beschrieben wird – es tut der hinreißenden Wucht dieses bis in die letzte Geste durchchoreografierten Abends nicht den geringsten Abbruch.

 

So wie sich der Penis des vermeintlichen Revisors beim verlogenen Liebeswerben um die Bürgemeisterstochter in eine funkensprühende Feuerwerksrakete verwandelt, so macht diese Aufführung aus dem ganzen Stück einen diabolisch-genialen, granatenscharfen Hochgenuss für das begeisterte Publikum!

 

 

 

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