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" Mutter Courage und ihre Kinder" von Bertolt Brecht im Staatstheater Kassel

Premiere: Freitag, 10. Mai 2019, 19:30 Uhr, Schauspielhaus

Die Verluste an Leben auf dem Lande liegen bei vierzig Prozent. In den Städten noch bei dreißig – hundert in Magdeburg. Unter dem von pestschwarzem Rauch verfinsterten Himmel ist ein jeder nackt, denn wie alles ringsum beweist: Leben hat keinen Wert mehr, den ein Recht schützen oder ein Stärkerer achten würde. Dieser Krieg ist anders. Er begann nicht durch einen Feind von außen, sondern dadurch, dass Nachbarn, Freunde, Familie zu Feinden wurden, unsichtbaren Feinden, willens dich für einen anderen Glauben plündern, vergewaltigen, abschlachten zu lassen. Der Dreißigjährige Krieg, Urkatastrophe Europas, war der erste ideologische Bürgerkrieg.

 

Und wenn Bertolt Brecht eine zähe Marketenderin durch die Überreste der Welt schickt, so ist eine bittere Pointe der Anna Fierling (wegen eines waghalsigen Brot­geschäfts in Riga Courage genannt), dass die Politiker des Barocks aus dem Dreißigjährigen Krieg folgendes lernten: Nicht Glaube garantiert Zivilisation, nein, der zerstört sie, vielmehr der Markt – die neutrale, notwendige Kraft von Angebot und Nachfrage, der gesunde Egoismus des Einzelnen, der dem Gemeinwesen zugutekommt. Gerade die englische Händlerphilosophie, deren Dominanz die Welt bis heute in den Neoliberalismus prägte, glaubt fest an den Zusammenhang von Notwendigkeit, Markt, city und civility.

Aber ist der Kapitalismus die Lösung, die Befreiung vom Krieg? Oder ein Frankenstein, der den Krieg schlimmer macht? Trägt er, wie die Wolke den Regen, den Krieg nicht in sich? Stachelt er heute die Autokraten nicht an, an Börsen mit Wasser ebenso wie mit Waffen zu dealen? Hat er nicht den Typus des Warlords geboren, der für Dollar und Diamanten Kindersoldaten bewaffnet? Ist der Frieden in Europa eine dekadente Illusion, genährt von der Idee, dass Frieden an sich etwas Schönes sei, vor allem, dass unsere Vision davon in Washington, Moskau, Peking, Ankara etc. geteilt wird?

Sind wir nicht naive Aristokraten in einer Welt voller Feinde und falscher Freunde und Barbaren, die unsere kostbaren Paläste plündern wollen? Sind unsere Grenzen nicht umso blutiger, je weniger wir hinsehen wollen? Ist Europa nicht eine schizophrene Marketenderin, die glaubt, sie könne mit klingendem Euro durchkommen? Und die am Ende alle ihre Kinder … verloren haben wird?

Laura Linnenbaum, die in ihrer Inszenierung von »Ein Sommernachtstraum« am Staatstheater Kassel eine
luftig leichte Entsprechung des Klassikers gefunden hat, konfrontiert ihr Publikum mit den Abgründe des brechtschen Klassikers auf eine rohe, intensive, gleichzeitig poppig-psychedelische, nahbare und mitreißende Art und Weise, die jeglichen Zweifel an der Aktualität von Brechts Werk auszuräumen wagt.

Musik von Paul Dessau, bearbeitet von Christoph Iacono für das Staatstheater Kassel

Inszenierung: Laura Linnenbaum,
Komposition, musikalische Einstudierung und musikalische Leitung: Christoph Iacono,
Bühne: Daniel Roskamp,
Kostüme: Ulrike Obermüller,
Dramaturgie: Thomaspeter Goergen,
Licht: Oskar Bosman

Mit: Eva-Maria Keller (Mutter Courage), Anke Stedingk* (Mutter Courage), Alexandra Lukas (Kattrin, ihre stumme Tochter), Philipp Basener* (Eilif, der älteste Sohn), Marius Bistritzky (Schweizerkas, der jüngere Sohn), Jürgen Wink (Der Feldjäger), Konstantin Marsch (Der Koch), Uwe Steinbruch (Tyll), Aljoscha Langel (Ulen), Enrique Keil (Spiegel), Meret Engelhardt (Yvette Pottier)
*als Gast

Nächste Vorstellungen: 18.05. (im Rahmen der Hessischen Theatertage), 22.05., 24.05., 02.06., 19.06., 21.06.

Das Bild zeigt Bertolt Brecht und Paul Dessau

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