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Uraufführung: Helena Waldmann, "Der Eindringling – eine Autopsie" im Pfalzbau Bühnen Ludwigshafen

Premiere am Pfingstsamstag, 8. Juni 2019 um 19:30 Uhr

Mit Der Eindringling – eine Autopsie inszeniert Helena Waldmann auf der quasi mikroskopischen Ebene des Körpers eine Makroskopie der Politik. Sie legitimiert sich immer zuerst durch das Konstrukt eines geschlossenen Körpers, eines Volkes, einer Nation, eines Inlands und seiner Produkte. Gegenüber Eindringlingen, Angreifern oder Konkurrenten erzeugt sie eine „solidarische“ Geschlossenheit des eigenen Körpers.

 

Copyright: Christopher Schmidt/KOKOMILK, Probenfoto

Der Eindringling zeigt, dass Körper ebenso wie politische Konstrukte nur durch Öffnungen (Mund, Nase, Augen, Ohren, Poren etc.) zum Leben und Überleben fähig sind – und dass es weit mehr Erfolg verspricht, am Gegner zu wachsen, statt ihn zu vernichten. Tanz ist der physische Beweis dafür, dass Offenheit, Freiheit und Freizügigkeit der perfiden Logik der Geschlossenheit überlegen sind. Zumal unsere irrational angsterfüllte Gesellschaft auf fast tragikomische Weise demonstriert, dass unser übersteigertes Bedürfnis nach Schutz in Wirklichkeit nur eine Konsequenz hat: Wir werden schutzlos gemacht.

Wie immer vermittelt Helena Waldmann diese Botschaft durch die Choreographie – und wie immer nutzt sie dafür die sehr speziellen Fähigkeiten ihrer Performer. Nach Kathak-Tanz (Made in Bangladesh) und Akrobatik (Gute Pässe Schlechte Pässe) lässt sie sich diesmal von der chinesischen Kampfkunst Kung Fu inspirieren. Hier sind Angriff und Abwehr eins. Die Kraft des jeweiligen Gegners wird durch wendige Schritt- und Schlagtechniken neutralisiert und gegen den Angreifer gewendet.

Helena Waldmann ist seit 1989 freischaffende Tanzregisseurin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. Zwischen 1993 und 1999 verdrehte sie Bühnenperspektiven, mauerte die Vierte Wand zu, inszenierte das Theater wie einen Film und feierte mit diesen radikalen Stücken internationale Erfolge. Ihre Choreographien entstehen und touren weltweit. Die Themen reichten von der erschreckend anarchischen Freiheit der Demenz (revolver besorgen) und vom lustvollen Spiel mit Abhängigkeiten (BurkaBondage) bis zum anarchischen Fest gegen die Arbeitsdiktatur der Leistungsgesellschaft (feierabend! – das gegengift). Waldmanns Stücke entstehen in Dhaka, Tokyo, Kabul, aber auch in Teheran, wo sie äußerlich eingeschränkte, dafür um so souveränere Frauen in islamischen Staaten feiert (Letters from Tentland) und die Antworten auf die europäische Asylpolitik durch iranischen Exilantinnen inszeniert (return to sender – Letters from Tentland). Sie arbeitete in Ramallah mit Menschen, die tanzen müssen, um unter den Umständen der Blockade nicht verrückt zu werden (emotional rescue) und in Salvador de Bahia, wo sie für ihre von Fremdbestimmung gefangenen Wesen (Headhunters) den Theaterpreis der UNESCO erhielt. Zu Waldmanns bislang größten Erfolgen zählt Made in Bangladesh, mit dem sie die harten Lebenswelten der Näherinnen in Südasien auf die Bühne brachte und kühne Parallelen zum Tänzerprekariat in der westlichen Welt zog. Sie erzeugte damit nicht nur ein gewaltiges Echo beim Publikum und in den internationalen Feuilletons, sondern wurde auch für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2015 nominiert. Die international renommierte Tanzregisseurin wurde für das Wintersemester 2018/19 zur Bertolt-Brecht-Gastprofessorin der Stadt Leipzig am Centre of Competence for Theatre der Universität Leipzig berufen. Das Konzept für die Gastprofessur legt besonderen Wert auf Praxisnähe, und so hat Helena Waldmann ihre Lehrtätigkeit mit einem aktuellen Projekt verbunden. Unter dem Titel Anatomisches Theater werden sich die Studierenden auf künstlerische Recherche zu einem Thema begeben, das Waldmann momentan stark beschäftigt.

Wenn man ihre überaus vielfältige Arbeit überhaupt auf einen Nenner bringen kann, dann auf diesen: die Überwindung von Grenzen. Auch Waldmanns letzte Produktion Gute Pässe Schlechte Pässe von 2017 kreiste um dieses Lebensthema, aufs Anschaulichste verkörpert von einem Ensemble aus Akrobaten und zeitgenössischen Tänzern. Momentan arbeitet Waldmann am nächsten Level: Schließlich verlagert die bevorstehende Uraufführung Der Eindringling – eine Autopsie die Dialektik von Abgrenzung und Öffnung ins tiefste Innere – den Organismus selbst.
Im gerade zu Ende gegangenen Wintersemester 2018/19 war Helena Waldmann Bertolt-Brecht-Gastprofessorin der Stadt Leipzig am Centre of Competence for Theatre der Universität Leipzig.

Performer: Ichiro Sugae, Tillmann Becker, Telmo Branco

Konzept, Bühne & Tanzregie: Helena Waldmann
Video: Anna Saup und Michael Saup
Musik: jayrope
Kostüm: Judith Adam
Licht: Herbert Cybulska
Kampfkunst-Coaching: Aljoscha Tursan
Technische Leitung: Carsten Wank
Tontechnik: Stephan Wöhrmann
Produktionsleitung: Claudia Bauer

Eine Produktion von
Helena Waldmann und ecotopia dance productions
in Koproduktion mit Pfalzbau Bühnen Ludwigshafen, Forum Freies Theater Düsseldorf, Tafelhalle Nürnberg, Tollhaus Karlsruhe
Die Matinee am 2. Juni 2019 wird gefördert von BASF (Kulturförderprogramm Tor 4).

Weitere Stationen 2019: Theaterhaus Stuttgart am 9. November 2019 / Tanzfestival Theater in Bewegung im Theaterhaus Jena am 12. & 13. November 2019 / Theater im Pumpenhaus Münster am 27. November 2019 / Forum Freies Theater Düsseldorf am 29. & 30. November 2019 / Tollhaus Karlsruhe am 3. Dezember 2019 / Stadttheater Aschaffenburg am 5. Dezember 2019 / Tafelhalle Nürnberg am 7. Dezember 2019

 

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