Herr/Knecht, Mann/Frau, reich/arm, Gefühl/Rationalität etc. Das Fräulein Julie und der Kammerdiener Jean treffen sich in der schwedischen Mittsommernacht in der Gesindeküche eines gräflichen Hauses. Sie provoziert den Mann, zieht ihn auf, ist kokett, beleidigend, herrisch, verführerisch. Er scheint gebildet, antwortet auf französisch, erzählt, dass er Bücher liest. Sie fordert ihn zum Tanz, in vollem Bewusstsein dieser Provokation, die über Geschlechter- und Standesgrenzen hinweg Jean zu einer Reaktion zwingt. Er hegt die widersprüchlichsten Gefühle Julie gegenüber - denn er begehrt sie bereits seit langem. Jedoch den Standesregeln entsprechend ist er mit der Köchin Kristin verlobt, die jeden Moment das prekäre tête-à-tête zu stören droht. Die feiernde Mittsommergemeinde nähert sich der Küche, beide ziehen sich zurück in Jeans Zimmer, wo sie sich, wohl gegenseitig, verführen. Danach, wieder unten in der Küche, scheinen die Vorzeichen umgekehrt: Jean schmiedet Pläne einer gemeinsamen Zukunft, er möchte, dass sie gemeinsam fliehen, um am Genfer See ein Hotel zu eröffnen, wobei er für das Geschäftliche, sie für das Repräsentative zuständig sein soll. Die Rollen haben gewechselt: er bestimmt nun, plant, entscheidet - und, so schreibt Strindberg, „er spricht aus, was ihm nützt, nicht, was wahr ist“. Julie ist klar, dass sie nicht mehr zurück kann, dass sie nicht zu ihm hinabgestiegen, sondern gefallen ist. Er fordert von ihr, grausam offen und ohne die frühere Sensibilität, die er nur vorspielte, das Geld für die gemeinsame Unternehmung, das sie aus der väterlichen Schatulle entwenden soll. Der Morgen rückt näher, das Haus erwacht, die Situation lädt sich immer mehr auf - doch da läutet der Graf nach seinen Stiefeln, und für Julie gibt es nur noch einen Ausweg.
Der schwedische Dramatiker August Strindberg (1849 - 1912) nennt sein Stück Fräulein Julie „ein naturalistisches Trauerspiel“. Strindbergs Definition weist auf eine neue Richtung, eine ganz neue Energie im Unterschied zur damals bekannten Dramatik. Seine Charaktere sind chaotisch, hysterisch, unsystematisch, sprunghaft, verzerrt - und er trifft damit genau den Nerv der Zeit: seiner wie unserer. Julie und Jean, die beiden Liebenden und Kämpfenden, sind wie Vampire, die sich aussaugen, sie dringen in den anderen ein wie ein Virus, um den anderen zu infizieren, sie genießen es, wie der andere unter den Angriffe leidet und sich windet und nicht adäquat reagieren kann. Strindberg selbst schreibt sich in diese Dialoge hinein: er ist ein Frauenhasser, ein Macho in höchstem Maße, doch hat er, sich selbst ausgeliefert, eine ungeheuer genaue Beobachtungsgabe, das Erlebte zu Theater zu machen. Deshalb nimmt er auch in seinen Stücken keine ideologische oder parteiische Position ein, er ist lediglich ein genauer Kenner der Materie. „Denke über mein Leben folgendermaßen: Ist es möglich, dass all das Schreckliche, das ich erlebt habe, für mich inszeniert wurde, damit ich Dramatiker werden und alle seelischen Zustände und Situationen schildern konnte?“
Inszenierung Inken Böhack
Bühne und Kostüme Peter N. Schultze
Mit Carmen Betker
Vera Kasimir
Anas Ouriaghli