Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
VERÄNDERUNG DES HÖRENS - Musik am 13. in der Stadtkirche Bad-Cannstatt mit Werken von Helmut LachenmannVERÄNDERUNG DES HÖRENS - Musik am 13. in der Stadtkirche Bad-Cannstatt mit...VERÄNDERUNG DES HÖRENS -...

VERÄNDERUNG DES HÖRENS - Musik am 13. in der Stadtkirche Bad-Cannstatt mit Werken von Helmut Lachenmann

"Klavier pur" - Musik von Helmut Lachenmann in der Stadtkirche am 13.2.2024/BAD CANNSTATT. -- Er gilt als der größte lebende deutsche Komponist. Der 1935 in Stuttgart geborene Helmut Lachenmann hat immer wieder ganz bewusst Hörgewohnheiten herausgefordert und neue kompositorische Wege beschritten. Deswegen lässt er sich stilistisch nur schwer einordnen. Dies wurde auch im Gespräch mit Hans-Peter Jahn in der Stadtkirche Bad-Cannstatt deutlich. Die Techniken des musikalischen Strukturierens werden in seiner "Windmusik" erkennbar, die Lachenmann selbst am Flügel spielte.

 

Eine "Polyphonie von Anordnungen" machte sich dabei bemerkbar, die jedoch beim Frühwerk "5 Variationen über ein Thema von Franz Schubert" aus dem Jahre 1956 noch viel deutlicher zutage tritt. Die japanische Pianistin Tomoko Hemmi interpretierte dieses Werk mit höchster Konzentration, ein System von virtuellen Zusammenhängen entfaltete eine immer größere Intensität. Das formale Ereignis wurde auf einen unmittelbaren Gestus zurückgeführt, gleich zu Beginn erklangen  nämlich Melodien von Franz Schubert, die aber rasch verfremdet wurden. So wurde die motivisch-thematische Arbeit konsequent zerlegt, zerfiel manchmal in Einzelteile, wuchs aber immer wieder zusammen.

Ungewöhnlich tonal erscheint Helmut Lachenmann dann in dem 2016 komponierten "Marche fatale", den er selbst ironisch als "Sündenfall" bezeichnete. Ein Sündenfall ist dieses ungewöhnliche Klavierwerk (von dem auch eine Orchesterfassung existiert) sicherlich nicht, sondern etwas ganz Neues. Es ist ein grotesker Marsch in Es-Dur, den Tomoko Hemmi mit explosiver Gestaltungskraft nachzeichnete. Die subtile Veränderung des Hörens setzte sich auch hier konsequent durch. Die Dur-Moll-Tonalität konnte sich dagegen nicht behaupten. Lachenmann selbst definiert diesen Marsch als "magisches Medium zur Vermittlung kollektiver Empfindungen..." Tomoko Hemmi verleugnete die Anklänge an Liszt- und Wagner-Zitate keineswegs. Und auch den verzweifelten Grundton dieser Musik mit ihrem chaotischen Schluss konnte man deutlich heraushören. So kommt der entgleiste Zug der Marschierenden in den letzten Takten abrupt zum Stillstand.

Große spieltechnische Anforderungen stellt das letzte Stück "Serynade", das Helmut Lachenmann in den Jahren 1997/1998 für seine Frau Yukiko Sugawara komponierte. Es ist kontrapunktisch vielschichtig und seriell komponiert, verfremdete Spieltechniken markieren hier die Spitze eines harmonischen Eisbergs.  Flageolett-Nachhalle entfalten dabei eine ganz ungewöhnliche klangliche Magie, die Tomoko Hemmi konsequent steuerte. Der formale Zusammenhang hatte dabei tatsächlich richtungsweisenden und explosiven Charakter. Und auch mechanische Prozesse gewannen zunehmend Bedeutung, wenn etwa massive Akkordblöcke im Fortissimo immer wieder niederkrachten und die Stille zerrissen. Pedal-Sequenzen und schattenreiche Saitenklänge wechselten sich geheimnisvoll ab.

Eines ist klar: Der Klang und seine Veränderung stehen bei Lachenmann immer wieder bedeutungsvoll im Mittelpunkt. Tomoko Hemmi spielte in der Stuttgarter Inszenierung von Lachenmanns Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" den Klavierpart. Der Theologe und Pfarrer Gerd Mohr las zudem Texte aus Ferdinand von Schirachs Buch "Jeder Mensch", das die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und den Beginn der Französischen Revolution von 1789 beschreibt. Geschildert wird auch die bewegende Freundschaft zwischen George Washington und General La Fayette, der schließlich in die Mühlen des Terrorregimes von Robespierre geriet, weil er sich gegen die Verurteilung des Königs aussprach. Es sind Texte, die zum Nachdenken über geschichtliche Entwicklungen anregen.
 

 

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 16 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

AUFSTAND DER UNTERDRÜCKTEN -- "Farm der Tiere von George Orwell im Schauspielhaus Stuttgart

"Kein Tier in England ist frei!" So lautet das seltsame Motto von George Orwells "Farm der Tiere", die wie "1984" auch irgendwie eine seltsame Zukunftsvision ist. Die Tiere wie Hunde, Hühner, Schafe…

Von: ALEXANDER WALTHER

VERWIRRUNG BIS ZUM SCHLUSS -- "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano im Theater Atelier Stuttgart

Eine geschickt verwobene und raffinierte Handlung präsentiert Vladislav Grakovski in seiner Inszenierung des Kriminalstücks "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano. Spannung, Humor und…

Von: ALEXANDER WALTHER

BERÜHRENDE MOMENTE -- "Spatz und Engel" mit dem Tournee-Theater Thespiskarren (Produktion Fritz Remond Theater im Zoo, Frankfurt) im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

Edith Piaf und Marlene Dietrich stehen hier im Schauspiel mit Musik von Daniel Große Boymann und Thomas Kahry als zwei Göttinnen des Chansons im Mittelpunkt des Geschehens. Und es ist gar nicht so…

EIN ÜBERZEUGTER HUMANIST -- 5. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart in der Liederhalle Stuttgart

Das Stück "Felder...im Vorübergehen" für Streichorchester aus den Jahren 1993/94 von Bernhard Lang ist nicht so spektakulär wie seine Oper "Dora", besitzt aber durchaus charakteristische…

Von: ALEXANDER WALTHER

EIN BEWEGENDER FEUERREITER -- Liedmatinee - Verleihung der Hugo-Wolf-Medaille in der Staatsoper Stuttgart

Die New York Times bezeichnete das Liedduo Christian Gerhaher (Bariton) und Gerold Huber (Klavier) als "größte Liedpartnerschaft der Welt". Dies betonte Kammersängerin Christiane Iven in ihrer…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑