Halt in einer solcherart immer verwirrender werdenden Welt bietet ihm allein die Musik. So gerät ihm der Lärm der Straße zur Geräuschsinfonie, und auch die gewöhnlichsten Vorgänge des Lebens werden von Musik begleitet. Als einzig mögliche Therapie verschreibt ihm sein Arzt Dr. S. folglich nur – Musik!
Der Stoff
In seinem Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ hat der 1933 in London
geborene und am 30. August 2015 in New York verstorbene Neurologe Oliver Sacks Berichte über
Erkrankungen insbesondere der rechten Hälfte des menschlichen Gehirns versammelt; denn „die rechte Hälfte ist in entscheidendem Maße an der Wahrnehmung der Wirklichkeit beteiligt, eine Fähigkeit, über die jedes Lebewesen verfügen muss, um überleben zu können. [...] die klassische
Neurologie aber beschäftigte sich mehr mit schematischen Abläufen als mit der Realität, sodass man
einige Symptome der rechten Gehirnhälfte nach ihrer Entdeckung lediglich als wunderliche Phänomene abtat.“ (Sacks)
Es ist nur ein schmaler Grat, der zwischen der Wahrnehmung und der Fehlwahrnehmung der uns
umgebenden Natur und ihrer Phänomene liegt, kleinste neurologische Beeinträchtigungen können somit enorme Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben. Körperlich unversehrt und in allen
übrigen Vitalfunktionen vollkommen unbeeinträchtigt, ist ein „normaler“ Tagesablauf für die an
visueller Agnosie erkrankten Patienten kaum oder nur sehr schwer möglich. Umso erstaunlicher,
inwieweit das menschliche Gehirn dennoch in der Lage ist, gewissermaßen durch Ersatzhandlungen
eine rettende Struktur zu schaffen, um so selbst die alltäglichsten Handgriffe und Vorgänge – Waschen, Essen, Ankleiden – bewältigen zu können. Für Dr. P., den Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, ist es die Musik, die diese Brückenfunktion übernimmt: „Ich lege ihm seine Kleider an der gewohnten Stelle hin, und er zieht sich ohne Schwierigkeiten an“, so die Ehefrau des Patienten Dr. P. in Oliver Sacks Fallgeschichte. „Dabei singt er vor sich hin. Das tut er bei allem, was er macht. Aber wenn er unterbrochen wird und den Faden verliert, ist er ratlos – dann weiß er mit seinen Kleidern oder mit seinem eigenen Körper nichts anzufangen. Er singt die ganze Zeit: Esslieder, Anziehlieder, Badelieder, alles Mögliche. Er kann nichts tun, ohne ein Lied daraus zu machen.“
Die Kammeroper
Musik als rettende Brücke, Musik als Therapie – Sacks‘ Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte faszinierte nach seinem Erscheinen nicht nur die Fachwelt. Im Jahr 1986 lernte Sacks in
London den britischen Komponisten Michael Nyman kennen – einem breiteren Publikum insbesondere durch seine Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Peter Greenaway und den Soundtrack zum Film „Das Piano“ bekannt –, der ihn fragte, ob er sich die Fallgeschichte als Grundlage zu einer Kammeroper vorstellen könne. „Ich sagte, ich könne mir so etwas nicht vorstellen“, so Oliver Sacks in seinen 2015 unter dem Titel „On the Move“ erschienenen Lebenserinnerungen, „woraufhin Nyman antwortete, das müsse ich auch nicht, das Vorstellen übernehme er. Tatsächlich hatte er das bereits getan, denn am folgenden Tag legte er mir eine Partitur vor und nannte mir den Librettisten, der ihm vorschwebte: Christopher Rawlence.“
Die mit Harfe, Klavier, zwei Violinen, einer Bratsche und zwei Celli äußerst klein besetzte Partitur bietet eine Fülle an vielschichtigem Klangmaterial und mischt virtuos Zitate aus Liedern Robert Schumanns – der zeitlebens selbst, wie wir aus seinen Tagebucheinträgen erfahren, unter „Qualen fürchterlichster Melancholie“ litt – mit Elementen der amerikanischen Minimal Music. Seit ihrer Londoner Uraufführung am 27. Oktober 1986 zählt Michael Nymans Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte zu den meistgespielten Kammeropern des neueren Repertoires.
Die Inszenierung in Erfurt/Der Regisseur
In der Regie von Markus Weckesser ist das Werk nun erstmals in Erfurt zu erleben. Weckesser, der zuletzt im April 2014 Terrence McNallys Meisterklasse in einer viel diskutierten Inszenierung auf die
Studiobühne gebracht hat, wird auch Nymans Partitur einer ganz eigenständigen Lesart unterziehen und dabei gemeinsam mit Ausstatter Hank Irwin Kittel neue und ungewohnte Perspektiven über Dr. P., die Musik und nicht zuletzt auf die Form der „Kammeroper“ selbst aufzeigen. Weckesser verspricht einen extrem sinnlichen Abend und sagte zu Probenbeginn: „Um die Dramatik des Gehirnzerfalls nachvollziehbar werden zu lassen, werden wir ein wenig experimentieren. Wir werden ein wenig
experimentieren und beispielsweise mit Licht und Gerüchen eine Atmosphäre schaffen, die den
Zuschauer das Leiden des Patienten spüren lässt.“
Musikalische Leitung: Peter Leipold
Inszenierung: Markus Weckesser
Bühne: Hank Irwin Kittel
Kostüme: Mila van Daag
Licht: Stefan Winkler
Dramaturgie: Berthold Warnecke
Musikalische Assistenz Yuki Nishio
Inspizienz: Marion Kardos
Regieassistenz und Abendspielleitung: Hans Walker
Dramaturgiehospitanz: Lisa Wetzel
Musikalische Einstudierung Ralph Neubert (Studienleiter), Hermes Helfricht, Peter Leipold, Yuki Nishio
Mrs. P.: Marisca Mulder
Dr. S.: Thomas Paul
Dr. P.: Gregor Loebel
Philharmonisches Orchester Erfurt
Weitere Aufführungen So, 24.01. | Fr, 29.01. | Mo, 14.03. | Di, 15.03. | Sa, 19.03.2016