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GRENZÜBERSCHREITUNG MIT CLOWNS - "Carmen" von Bizet in der Staatsoper STUTTGART

Juni 2023

Am 17. Juni/2006 sorgte Sebastian Nüblings Inszenierung von Georges Bizets Oper "Carmen" noch für einen Skandal. Jetzt wird sie vom Publikum akzeptiert. Der Mord an Carmen wird hier mehrfach gezeigt. Gleichzeitig erfolgt immer wieder ihre geheimnisvolle Auferstehung. Auf der anderen Seite ist diese Inszenierung (Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner, Eva Butzkies) ganz und gar unspanisch, der Stierkampf wird nicht einmal richtig angedeutet und Carmen erscheint in einer silbernen Robe.

 

Copyright: Martin Sigmund

Dann kommen noch Clowns ins Spiel, was nicht zu den stärksten Einfällen dieser Arbeit zählt. Aber sie markieren eine wichtige Grenzüberschreitung im Stück, die Freiheit der Liebe wird von Nübling konsequent hinterfragt. Die Clowns haben auch eine dämonische Komponente, denn sie ergreifen von dem hin- und hergerissenen Don Jose Besitz und steigern noch seine Eifersucht. Wenn man in der Stuttgarter Staatsoper "Carmen" sieht, denkt man unweigerlich an den Kapellmeister Aloys Obrist, der im Jahre 1910 aus Eifersucht die Sängerin Anna Sutter erschoss und sich dann selbst tötete. Für sie war die "Carmen" in Stuttgart eine Glanzpartie.

Carmen verwandelt sich in der Stuttgarter Inszenierung vielleicht auch in diesem Zusammenhang in eine lustvolle Obsession. Der Mord wird zur Befreiung vom Trieb. Bis zur berühmten Habanera erlebt man verschiedene Eröffnungen. Das reicht vom Chor der Soldaten über den Chor der Gassenjungen, jungen Liebhaber bis hin zum Chor der Fabrikarbeiterinnen. Der Denk- und Handlungsraum von Carmen wird immer wieder erweitert. So breitet sich auch der Atem der Freiheit wie die Trikolore der Muse bei Delacroix aus.

Im Mittelpunkt steht die Wohnung von Don Jose, die zum Ausstellungsraum und zur imaginären Passage der Sehnsucht wird. Hier wird der rebellische Geist und der tote Körper Carmens gefangen gehalten. Carmen und Don Jose werden abwechselnd gefesselt, sie können sich beide nicht aus ihrer schwierigen Lage befreien. Gleichzeitig lehnt Don Jose Micaela ab, die ihn vergeblich um Zuneigung anfleht. In der letzten Szene wird er sie schonungslos mit dem Rücken zur Wand setzen, während der tödliche Kreislauf zwischen ihm und Carmen seinen Lauf nimmt. Don Jose ist den Launen der seltsamen Clowns ausgeliefert.

Die Inszenierung konzentriert sich vor allem auf die Personenkonstellation von Carmen, Don Jose und dem Stierkämpfer Escamillo, deren unheimliche Eskalation sehr gut herausgearbeitet wird. Don Jose gerät hier vor Eifersucht wirklich außer sich. Die Personenführung könnte sogar noch intensiver sein. Und die Schmuggler-Szene im dritten Akt wird in nächtliches Schwarz getaucht - das Unheil kündigt sich an. Das Kartenorakel hat hier etwas Endgültiges, Unwiderrrufliches. Es offenbart Frasquita glückliche Liebe, Mercedes einen reichen Mann und baldige Witwenschaft, Carmen aber den Tod. In der Schluss-Szene triumphiert sogar schwarze Magie, denn Don Jose tötet Carmen nur symbolisch, indem er drohend die Hand nach ihr ausstreckt.  So kommt es zur inneren Rückschau eines Mörders, der die Trennung nach kurzem Liebesrausch nicht akzeptieren kann (Video: Gabriele Vöhringer).

Musikalisch gelingt die Vorstellung sehr überzeugend. Unter der impulsiven Leitung von Killian Farrell musiziert das Staatsorchester Stuttgart höchst temperamentvoll und mit viel Sinn für klangliche Details. Feinste Klangzerlegungen korrespondieren mit der unerschöpflichen Kraft melodischer Erfindung, die sich immer mehr zu verdichten scheint. Auch die rasante und elektrisierende Kraft des Orchestervorspiels des ersten  Aktes geht nicht verloren. Unheimliche Intensität gewinnt außerdem das Schicksalsmotiv, das sich mit seinen fünf Noten geradezu symbiotisch mit Carmen verbindet. Reizvolle Klangschattierungen beherrschen das Dur und Moll beim Vorspiel zum  zweiten Akt. Und die facettenreichen Arlesienne-Sequenzen beim Vorspiel zum dritten Akt mit ihrer differenzierten klanglichen Ausgestaltung der Instrumentation gipfeln ausgesprochen kraftvoll in der Farandole-Stimmung.  Das kraftvolle Unisono des Marsches wird durch einen Achtelrhythmus ergänzt, der zuweilen fast gespenstisch wirkt.

Insbesondere die gesanglichen Leistungen sind eindrucksvoll. Dass Bizet ein Meister der großausschwingenden Melodie war,  verdeutlicht vor allem der ausgezeichnete Tenor Martin Muehle als Don Jose, dessen Verzweiflungsausbrüche glaubwürdig sind. Und auch Stine Marie Fischer (Mezzosopran) gewinnt ihrer Rolle als Carmen viele farbenreiche Nuancen ab. Josefin Feiler fesselt als Micaela mit glühender Leidenschaft, die Don Jose vergeblich zur Umkehr anfleht. In weiteren Rollen überzeugen ferner Laia Valles als Frasquita, Maria Theresa Ullrich als Mercedes, Gerard Farreras als Zuniga, Alberto Robert als Remendado, Heinz Göhrig als Dancaire sowie Jorge Ruvalcaba als Morales. David Steffens (Bariton) besitzt als Stierkämpfer Escamillo auch etwas Explosives. Als Figur der seltsamen Realität Surplus überrascht Luis Hergon.

Hervorragend ist der Staatsopernchor mitsamt dem Kinderchor unter der Leitung von Bernhard Moncado. Viel Beifall, Ovationen.
 

 

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