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Aribert Reimanns "Lear" in der Staatsoper HamburgAribert Reimanns "Lear" in der Staatsoper HamburgAribert Reimanns "Lear"...

Aribert Reimanns "Lear" in der Staatsoper Hamburg

Premiere A: 15. Januar 2012, 18.00 Uhr,

Premiere B: 18. Januar 2012, 19.30 Uhr. -----

Kaum ein Werk des zeitgenössischen Musiktheaters hat eine solche Erfolgsbilanz vorzuweisen wie Aribert Reimanns »Lear«. Seit der Uraufführung 1978 in München erlebte die wohl beste Shakespeare-Oper der Moderne über 20 Neuinszenierungen, darunter in London, San Francisco und Paris.

 

Doch zwingend gehört das Stück nach Hamburg, denn hier wurde der Plan in der kurzen Intendanz von August Everding vorangetrieben und 1974 für die 300-Jahr-Feier der Hamburger Oper in Auftrag gegeben. Auch die Finanzierung der Uraufführung wurde durch die Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper und die Körber-Stiftung zunächst gesichert. Aber Intendant Everding wechselte 1977 nach München und nahm den »Lear«-Plan mit. Die Hamburger waren, erinnerte sich Everding, »auf ungewöhnliche Weise entgegenkommend« und machten den Weg frei für die Verlegung des Auftrags. »München jubelt über Hamburgs 'Jubi­lä­ums­-Oper'«, schrieb das Abendblatt zur Uraufführung im Süden und konstatierte »einen beispiellosen Triumph ohne jeglichen Protest des Publikums«.

 

33 Jahre später haben die Hamburger endlich Gelegenheit, das einst bestellte Werk zu sehen. Zum Jubiläum »333 Jahre in Hamburg« kehrt Reimanns Durchbruchs-Oper an den Ort ihres Ursprungs zurück. Simone Young hat den »Lear« schon lange auf ihrer Wunschliste: »Das ist eine atemberaubende Partitur«, sagt Hamburgs Opernintendantin. »Als englische Muttersprachlerin bin ich natürlich mit Shakespeare aufgewachsen. Und mich hat sofort fasziniert, wie es Reimann gelungen ist, die un­ge­heure Wucht und Größe dieses Stoffes in eine kompromisslose und unglaublich dichte Musiksprache zu übertragen. Es ist alles aus Shakespeares Drama da, aber eben auf eine höchst operngerechte Weise.«

 

Aribert Reimann bekannte sich zur Oper bereits in einer Zeit, da dieses Genre von vielen seiner Kollegen verachtet wurde. Seine emotional aufgeladene Melodik, seine körperhafte Orchestersprache, nicht zuletzt seine Liebe zur Literatur prädestinierten den gebürtigen Berliner für die Bühne, der er bis heute immer wieder neue Meisterwerke schenkt. Ob Kafkas »Schloss«, Euripides' »Troades«, García Lorcas »Bernarda Albas Haus« oder zuletzt Grillparzers »Medea«, der 75-jährige Großmeis­ter der Literaturoper erreicht das Publikum mit einer Breitenwirkung, die bei zeitgenössischer Musik alles andere als selbstverständlich ist.

 

Was ist das Geheimnis von Reimanns »Lear«-Vertonung? Sie lässt dem erst mächtigen, dann närrischen König seine Fallhöhe, und schrumpft ihn doch auf ein menschliches Maß, das zur Empathie einlädt. Reimann und sein Librettist Claus H. Henneberg behielten die politische Dimension der Tragödie bei, ohne die familiäre Katastrophe zu vernachlässigen. Lears misslungene Reichs­­­teilung bleibt die grausame Parabel von monströser Dimension: Neid, Hass und Intrige führen im Endspiel um ein fehlgeleitetes Ego an einen apokalyptischen Abgrund. Alle Bindungen werden zerrissen, alle Hierarchien gestürzt. Die Familie, die kleinste Keimzelle der Gesellschaft, unterliegt ebenso der Auflösung wie das Gefüge des Staates. Doch auf der anderen Seite steht auch die narrenphilosophische Erkenntnis, dass hinter der Fassade von Lug und Betrug immer noch die Liebe durchscheint. »Der König hat zwei Töchter verbannt, um wider Willen die dritte zu segnen.«

 

Diese dritte Tochter ist Cordelia, die jüngste, am we­nigs­­­­ten opportunistische. Sie verweigert dem Vater die geforderten Schmeichelworte und wird mutwillig enterbt. Fortan zieht das Chaos bei Lear ein. Seine beiden älteren Töchter Goneril und Regan verbünden sich gegen ihn und seine störrische Restherrschaft. Lears Welt klinkt sich aus dem System. Als irre, nackte Kreatur tobt er über die leere Heide. Spiegelbildlich zu Lears Auflösungsprozess vollzieht sich das Schick­sal des Grafen von Gloster. Auch dieser traut dem falschen Kind: Er verstößt seinen Sohn Edgar und hält sich an den bislang vernachlässigten unehelichen Sohn Edmund. Die Falschaussage Edmunds ebnet ihm scheinbar den Weg zur Macht, auf dem er eine Liebesallianz mit Lears älteren Töchtern eingeht. Diese Konstellation dreier passionierter Strategen fordert viele Opfer: zunächst den Grafen von Gloster, dem die Augen ausgestochen werden. Erst als Blinder erkennt Gloster die Wahrheit, wie Lear erst durch den Wahnsinn gehen muss, um sehend zu werden.

 

Lears Erkenntnis kommt zu spät, um die Auslöschung seiner Familie aufzuhalten. Alle drei Töchter sterben, auch Cordelia, die er in einer ergreifenden Abschiedsszene zu Grabe trägt. Cordelias Ehrlichkeit kostete sie das Leben, weil der Vater nur im Raster der kalkulierenden Machtinteressen dachte. Nun, als bloße Kreatur, die längst aus allen sozialen Hierarchien herausgefallen ist, öffnen sich ihm die Augen für Mitleid und Liebe. »Seht ihre Lippen, seht hier, seht ...«, lauten seine letzten Worte, gerichtet an eine hoffnungsvolle Vision, dass hinter dem toten Körper seines Kindes noch eine Seele weiteratmet.

 

Reimann erinnerte sich an das alte Operngesetz, dass ohne Mitgefühl für die Figuren keine wirkliche emotionale Beteiligung des Zuschauers aufkommt. Erst recht nicht, wenn die Klangsprache so verstörend in die Extreme führt, wie diese Partitur es zweifellos zumutet. Aber neben diesen nachtschwarzen Klangballungen, den schreienden Clustern, den rhythmischen Kaskaden steht eben auch die große Herzensöffnung: zarte melodische Kurven, sanfte instrumentale Beschwichtigungen, traum­verlorene Monologe. Hier heilt die Musik jene klaffenden Wunden, die aus der Brutalität der Handlung geschlagen werden. Simone Young wird diese Extreme auffächern: »Ich kenne kaum einen größeren musikalischen Kontrast in der Opernliteratur als jenen zwischen der unglaublich lauten und gewalttätigen Blendung Glos­ters und der betörend filigranen Szene seines Sohns Edgar, der nur von zwei tiefen Flöten begleitet seine einsamen Vokalisen singt.«

 

Und auch Lear hat seine großen emotionalen Momente, die sich in das Herz des Hörers bohren: Seine Abschiedsszene, aber auch sein rasender Monolog auf der Heide sind große gestalterische Herausforderungen. Reimann schrieb sie dem exzeptionellen Sängerdarsteller Dietrich Fischer-Dieskau auf den Leib, der auch die allererste Anregung zum Stück gab. Hamburgs Opernchefin hat sich früh der Mitwirkung von Bo Skovhus versichert: »Bo und ich sind ein eingespieltes Team und beide gleichermaßen begeistert von Reimanns Stück. Er hat ja hier in Hamburg unvergessene Erfolge als Wozzeck gefeiert und wird sich mit dem Lear eine echte Traumpartie erobern, die szenisch und musikalisch alles verlangt«, meint Simone Young.

 

Nun ist Lear eigentlich ein alter Mann, Uraufführungsfotos zeigen den jungen Fischer-Dieskau mit weißem Bart, greisenhaft geschminkt. Manche Interpreten sehen nach Goethes Zitat »Ein alter Mann ist stets ein König Lear« in ihm geradezu die Inkarnation aller Probleme, die das fortschreitende Altern mit sich bringt. Karoline Gruber, ihr Bühnenbildner Roy Spahn und ihre Kostümbildnerin Mechthild Seipel betrachten Lear nicht als Altersrolle: »Natürlich behandelt der 'Lear'-Stoff auch einen Generationenkonflikt«, sagt Karoline Gruber. »Aber die Figur wird bei uns kein hinfälliger Greis sein. Nicht Senilität oder Demenz führen ihn in die Isolation, sondern ein ungezügeltes Ego. Seine beiden älteren Töchter haben auch durchaus Grund, ihn zu hassen. Sie richten sich mit ihren unerfüllten Wünschen nach Zuneigung in einem bürgerlichen Sehnsuchtstraum ein, doch Lear zerstört ihr Rückzugsgebiet. Wie er sich überhaupt bislang wenig Mühe gegeben hat, seine Kinder zu verstehen.«

 

Bewusst strich Reimann seiner Titelfigur die Berufsbezeichnung: Lear ist weniger ein König als ein Jedermann. Karoline Gruber spürt die zahlreichen Spiegelungen im Stück auf: »Lear ist eben nicht eine völlig herausgehobene Figur. Jeder kann Lear sein. Shakespeare hat das schon deutlich eingebaut: Der Graf von Gloster ist eine offensichtliche Parallelfigur zu Lear. Aber auch in den sogenannten 'positiven' Figuren steckt viel von ihm selbst: Sein Getreuer Kent wird von Lears Töchtern gefoltert, doch eigentlich meinen sie ihren Vater. Gonerils Trotz ist eine abgemilderte Ausprägung von Lears Starrsinn. Der Narr und Lear treten ständig in einen Dialog. Und Lears Gefolge ist eine Projektion seiner eigenen Machtphantasien. Reimann hat diese Parallelen teilweise durch Simultanszenen noch geschärft: als Zuschauer beobachtet man gleichzeitig verschiedene Szenenkomplexe und entdeckt dabei erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen den Figuren, auch wenn sie an völlig verschiedenen Punkten der Handlung stehen«, erzählt die Regisseurin.

 

Die archaischen Dimensionen des Stoffs will das Regieteam nicht verleugnen. »Es wird große Bilder geben, die auch an bestimmte traditionelle Ikonographien anknüpfen«, verrät der Bühnenbildner Roy Spahn. »Wir arbeiten mit klaren Bildsymbolen für die psychischen Zustände der Figuren. Grundsätzlich suchen wir aber für Lears Raum der Macht keine mythologische Ferne, sondern eine absolut heutige Entsprechung.«

 

Reimann, der das Grauen des 2. Weltkriegs als Kind in Berlin noch miterlebte, zeigte sich während der Entstehungszeit des »Lear« selbst überrascht, wie sehr sein Stück durch die politischen Ereignisse des »Deutschen Herbsts« 1977 in ein Klima der Gewalt eingebettet war: »Dass diese 'Lear'-Aktualität sich mit unseren terroristischen Erfahrungen decken würde, habe ich natürlich am Beginn nicht gewusst«, bekannte er in einem Interview zur Uraufführung. Giuseppe Verdi war einst an diesem Stoff gescheitert, wusste Reimann. Vier Jahrhunderte lang war Shakespeares Tragödie nicht in ihrer ganzen albtraumhaften Konsequenz auf der Bühne gezeigt worden. Erst das Fegefeuer der Kriegskatastrophen im 20. Jahrhundert schien einen »Lear« in Tönen möglich zu machen. Reimanns Musik vertraut auf die ganze Ausdruckskraft einer modernen Partitur. Gleichzeitig schärft sie das individuelle Profil und das Klangregister jeder Figur, was dem Hörer eine psychologische Nachvollziehung leicht macht. Wenn der »gute« Sohn Edgar etwa die wahnsinnige Maske des »Armen Tom« annimmt, verstellt er seine Stimme als Countertenor. Regan flüchtet sich in hysterische Koloraturen, der Narr reflektiert als Außenstehender über das Vergangene und das Kommende, er singt daher nicht mit, sondern ist als Sprechpartie gestaltet. Und Lear findet nach seinen starren Machtsentenzen des Beginns schließlich zu großen, bewegenden vokalen Bögen. Am Ende steht die Melodie und das elementare Menschsein.

Kerstin Schüssler-Bach

 

Musikalische Leitung: Simone Young

Inszenierung: Karoline Gruber

Bühnenbild: Roy Spahn

Kostüme: Mechthild Seipel

Licht: Hans Toelstede

Chor: Florian Csizmadia

Video: Karl-Heinz Stenz

Dramaturgie: Kerstin Schüssler-Bach

 

König Lear

Bo Skovhus

König von Frankreich

Wilhelm Schwinghammer

Herzog von Albany

Moritz Gogg

Herzog von Cornwall

Peter Galliard

Graf von Kent

Jürgen Sacher

Graf von Gloster

Lauri Vasar

Edgar

Andrew Watts

Edmund

Martin Homrich

Goneril

Katja Pieweck

Regan

Hellen Kwon

Cordelia

Ha Young Lee

Narr

Erwin Leder

Bedienter

Frieder Stricker

 

Orchester

Philharmoniker Hamburg

 

Aufführungen: 21., 24., 27., 30. Januar 2012, 3. Februar 2012, 19.30 Uhr

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