Am späten Abend des 24. März 1945 wurden von den Gästen einer Abendgesellschaft auf dem Schloss der Gräfin Batthyány, geborene Thyssen-Bornemisza, in Rechnitz über 180 Deportierte getötet - ein Massaker, über das im Nachkriegsösterreich ein Mantel des bleiernen Schweigens geworfen wurde und das bis heute nicht aufgeklärt worden ist.
Dieser Un-Kultur des Verschweigens und Verdränges der NS-Vergangenheit, die natürlich kein rein österreichisches Phänomen ist, nimmt sich Elfriede Jelinek in ihrem Stück an, auf ihre ureigene ästhetische Weise: In dem Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ begegnen uns Boten auf einem Schloss. Sie berichten. Sie erzählen. Sie widersprechen sich. Ihre Themen: Das Vergessen. Das Erinnern. Deutschland. Wir alle. Und immer wieder: Das Fest auf dem Schloss. Ein Fest, an das sich niemand erinnern will, aber über das alle sprechen. Ein Tanz auf dem Vulkan.
Elfriede Jelinek geht es mit „Rechnitz (Der Würgeengel)“ weniger um die (letztlich immer noch nicht mögliche) dokumentarische Rekonstruktion des Geschehens auf Schloss Rechnitz, sie interessiert viel mehr die Struktur des Denkens, die sich mit dem Rechnitzer Massaker verbinden lässt, und zwar bezogen auf die Kriegs- und Nachkriegszeit. In einer überbordenden Stimmen- und Themencollage, mit immenser gedanklicher Schärfe und fesselnder Assoziationskraft verbindet Jelinek die Themen, die ihr ganzes Werk bestimmen: Das Verdrängen und das Verharmlosen. Die Vergangenheit und die Verlogenheit.
Die Boten, die Jelinek dazu ins Feld schickt – man kann sich nie sicher sein, wessen Boten sie sind. Boten der Opfer. Boten der Täter. Boten der Rechtfertigung. Boten der Anklage. Vom Geschehen erfahren wir nur, was die Boten uns berichten. Dennoch ist „Rechnitz (Der Würgeengel)“ ein gewaltiger, ein gewalttätiger Text. Ein Text mit dauerndem doppelten Boden. Mit Vehemenz nimmt Elfriede Jelinek Position für die Opfer. Aber den Ton der Herablassung der Täter, ihre Ignoranz, ihre vorgebliche Harmlosigkeit, den trifft sie nachgerade unheimlich genau - und karikiert ihn mit bitterbösem Sarkasmus. Ein Text über die Wahrheit und die Lüge und den Missbrauch der Sprache: „Es geschah zum ersten Mal und wird gewiss nicht wieder vorkommen. Wir versprechen es. Wir versprechen uns.“
Der Titelzusatz „Der Würgeengel“ verweist auf den gleichnamigen surrealistischen Spielfilm des großen spanischen Regisseurs Luis Buñuel (1962), den Elfriede Jelinek assoziativ mit dem Geschehen in Rechnitz und mit der Atmosphäre ihres Stückes verbunden sieht: Buñuels Film zeigt die Dinnerparty einer gehobenen Abendgesellschaft, die sich plötzlich unfähig fühlt, den Raum ihrer Party zu verlassen. Tage vergehen, aber etwas Unsichtbares fixiert die Gäste im Raum, die Lage eskaliert ...
Nach der großen Resonanz auf Jelineks „Wolken.Heim“ in der vergangenen Spielzeit setzt das Schauspiel die Beschäftigung mit der Autorin fort, die nicht erst seit der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 2004 als die wohl wichtigste Autorin der Gegenwart gilt. „Rechnitz (Der Würgeengel)“, 2009 ausgezeichnet als „Stück des Jahres“ in der Umfrage von „Theater Heute“ sowie bei den Mülheimer Theatertagen, inszeniert der Schauspieldirektor Enrico Lübbe.
Mit den fünf Spielern Ellen Hellwig, Daniela Keckeis, Michael Pempelforth, Hartmut Neuber und Sebastian Tessenow inszeniert er Jelineks Text als ein intensives Ensemblestück. Die Bühne, einen Raum zwischen Schloß, Jagdhütte und Wartesaal, gestaltet Hugo Gretler, der damit nach „Endstation Sehnsucht“, „Privatleben“ und „Macbeth“ 2008/2009 in Chemnitz sowie Arbeiten u.a. am Burgtheater Wien, am Residenztheater München und am Schauspielhaus Zürich erneut am Schauspiel Chemnitz arbeitet. Die Kostüme entwirft Michaela Barth, die in Chemnitz u.a. die Ausstattung für Enrico Lübbes „Urfaust“ und „König Lear“ schuf. Zuletzt erarbeitete sie das Kostümbild für Michael Thalheimers Inszenierung von „La Forza del Destino“ an der Oper Antwerpen.
Regie: Enrico Lübbe
Bühne: Hugo Gretler
Kostüme: Michaela Barth
mit: Ellen Hellwig, Daniela Keckeis; Hartmut Neuber, Michael Pempelforth, Sebastian Tessenow
Die nächsten Vorstellungen sind am 18. und 22. März 2012, je 19.30 Uhr
Im Rahmen des Programms zum „Chemnitzer Friedenstag“ am 5. März 2012 lädt das Schauspielhaus um 19.30 Uhr zur öffentlichen Probe „Rechnitz (Der Würgeengel)“ ein, und im Anschluss zeigen wir den Dokumentarfilm „totschweigen“ (1994, 89 min.), in dem die österreichischen Filmemacher Margareta Heinrich und Eduard Erne versuchten, Rechnitzer Zeitzeugen zu dem Massaker zu befragen - ein bewegender Film, der Elfriede Jelinek stark inspiriert hat. Der Eintritt zur öffentlichen Probe (inklusive Film) ist frei.