Zwar liest sie freidenkerische Schriften, doch ihr ganzes Leben hat sie nur die überholten moralischen Normen und Pflichten der provinziellen wie bigotten Gesellschaft um sich herum erfüllt. Ihre eigenen Bedürfnisse und Ansichten führen seither ein lichtscheues Gespensterleben. Nun will sie mit dieser Vergangenheit abschließen: unerträgliche Jahre vergessen machen, die Lebenslüge hinter einer Fassade aus Vertuschung und Verdrängung, mit welcher sie ihre von Alkohol, Begierde und Depression zerrüttete Ehe nach außen tarnte.
Sie kauft sich frei, indem sie das Vermögen ihres verstorbenen Mannes samt scheinheiliger Fassade in einem Kinderheim verbaut. Osvald, ihr eigener Sohn, den sie als Kind aus dem Haus gegeben hatte und der als Maler in Paris lebt, ist aus diesem Anlass heimgekommen. Doch wie ein krankes Tier durchstreift er das Haus. Mit seiner Anwesenheit fühlt sich Helene Alving fast gespenstisch an ihren Ehemann erinnert. Beinahe identisch stellen sich Situationen ein, die sie schon einmal miterleben musste – als ob die dunklen Schatten der Familiengeschichte doppelt belichtet würden. Der Befreiungsschlag wird eine Zumutung: nämlich die Wahrheit. Sie betrifft alle, stellt alles in Frage, in diesem Haus, an diesem Tag, in einer langen durchwachten Nacht, über deren Katastrophe die Sonne schließlich unerbittlich aufgehen wird.
GESPENSTER zeigt Henrik Ibsens unübertroffene Meisterschaft, in einem kurzen dramatischen Moment ganze Lebensläufe schonungslos auflaufen zu lassen. Richtig und falsch sind für ihn dabei keine hilfreichen Kategorien. Vielmehr stellt er seinem Anspruch an „Wahrheit und Freiheit“ als den Stützen der Gesellschaft die Feigheit zur Wahrheit in Rechnung.
Anja Nioduschewski
mit Marek Harloff, Janine Kreß, Thomas Lawinky, Hagen Oechel, Linda Pöppel
Regie: Robert Borgmann
Bühne: Susanne Münzner
Kostüme: Janina Brinkmann
Musik: Friederike Bernhardt, Andreas Schwaiger
Dramaturgie: Anja Nioduschewski