Der Abend befasst sich einerseits mit dem kreativen Schaffensprozess, aus dem Bilder hervorgehen und hinter dem die Persönlichkeit einer Künstlerfigur steht. Andererseits sind die Flüchtigkeit des Bildhaften und dessen veränderliche Formen Teil der choreografischen Auseinandersetzung mit der Thematik: Gemälde und Fotos prägen sich im Gedächtnis ein und lassen sich im Nachhinein meist recht eindeutig beschreiben. Dagegen sind Tanz und Bewegung viel vergänglicher und keineswegs leicht zu fixieren.
Der französische Choreograf Medhi Walerski kreierte den zweiten Teil des Abends: „Mammatus“ entstand vor zwei Jahren für das Nederlands Dans Theater (NDT) und wirkt wie ein abstraktes Gemälde, das zum Leben erweckt wird. Man stelle sich vor, einzelne, auf einer Leinwand festgehaltene Formen lösen sich aus der starren Zweidimensionalität und beginnen, sich frei im Raum zu bewegen. Es entsteht ein Tanz, bei dem der Zufall seine Hand mit im Spiel hat: Impulse werden weitergegeben, reihen sich aneinander oder verlaufen sich in der Ferne… Langsam formen sich neue bewegte Bilder in einem stetigen Veränderungsprozess wie bei den „Mammati“ genannten Wolkengebilden bei bevorstehendem Gewitter, die als Namensgeber des Werkes fungieren. So spielen auch Elemente aus der Natur wie Schnee oder Wind eine wichtige Rolle in diesem betörenden choreografischen Werk.
Auch „Poem an Minotaurus“ wird neu mit Wiesbadener Tänzern einstudiert. Ballettdirektor Stephan Thoss ließ sich für diese Choreografie, die er 2008 mit dem Ballett des Staatstheaters Saarbrücken erarbeitete, durch vier Bilder Pablo Picassos anregen. Zudem inspirierten ihn Bildtitel, Skulpturen und biographische Details aus dem Leben des Malers. Einige Werke des Spaniers zeigen die Begegnung teils mit wesensfremder Kräfte, wodurch eine starke poetische Zündkraft entsteht. Der Minotaurus, ein sein Gesamtschaffen durchziehendes Motiv, ist auch Metapher für die Auseinandersetzung mit der Künstlerpersönlichkeit Picasso: Der lebendige Geist, die Ungeduld und Offenheit, mit der er seine Umwelt wahrnahm und seine unbändige Leidenschaft sind besondere dynamische Aspekte der Choreografie. Und auch seine zahlreichen weiblichen Musen dürfen natürlich nicht fehlen...
Den Abschluss des Dreiteilers bildet „Nightbook“, eine Uraufführung von Stephan Thoss. Hier beschäftigt er sich mit dem äußerst spannenden Prozess der künstlerischen Inspiration und Kreation: Unterschiedlichste Assoziationen und Ideen kommen und gehen, stehen nebeneinander, prallen aufeinander oder verbinden sich zu Neuem. Die Bilder im Kopf eines Künstlers entfliehen bewusst der Alltagswelt, um ein neues, konzentriertes, alle Seiten der Fantasie entfesselndes Bild zu erzeugen – gleich einem Film, der mit Farben und Klängen die Sinne belebt und sich vom zweckgebundenen Denken sorglos befreit, um mit Lust in einen rätselhaften und mehrdeutigen Raum zu tauchen. So sieht man auf der Bühne geheimnisvoll maskierte Bildern in spielerischem Miteinander, aber auch in unerbittlichen, tänzerischen Kämpfen. Zu Filmmusiken versucht die neue Choreografie, unsere Träume plastisch abzubilden und zum Fantasieren zu verführen.
Poem an Minotaurus
Musik von John Adams
Choreografie, Bühne und Kostüme Stephan Thoss
Mammatus
Musik von Dirk Haubrich
Choreografie und Bühne Medhi Walerski
Kostüme Bredje van Balen
Light Design Tom Visser
Nightbook (Uraufführung)
Musik von Ludovico Einaudi, Wojciech Kilar, Arvo Pärt, Dmitri Schostakowitch u. a.
Choreografie, Bühne und Kostüme Stephan Thoss
Ballett des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Weitere Vorstellungen
Sa 6.11., Do 18.11., Do 25.11. und Mo 29.11.2010
jeweils 19:30 Uhr, Großes Haus