Die Texte von Heiner Müller scheinen in dieser Zeit, in der wir die Welt als einen Ort voller scheinbar unlösbarer Widersprüche erleben, aktueller denn je, geradezu von einer prophetischen Kraft zu sein.
Müllers Thema ist die "ewige Gegenwart der Geschichte, die nicht war, sondern ist". Ihr müsse sich die Kunst stellen, damit nicht "Brocken von Unverdautem hochkommen", damit nicht Begrabenes aufsteht "wie die Hand aus dem Grab". Seine Stücke sind voller Metaphern, von denen Müller selbst sagte, dass sie klüger seien als der Autor. Sie tragen weiter als man selbst in der Lage sei, zu denken. „Die Metapher ist das Kennzeichen einer Zeit, die schneller geht, als die Menschen Erfahrungen verarbeiten können“, sagte Heiner Müller in einem seiner vielen Gespräche mit Alexander Kluge.
Beschäftigt man sich heute mit dem „Auftrag“, erscheint das Stück wie eine einzige große Metapher auf die gegenwärtige Situation, obwohl es zurückführt in die Zeit der Französischen Revolution. Aber diese Revolution ist nicht das Thema des Stückes, sondern der Referenzfall, an dem die Differenz zwischen geschichtlicher Entwicklung und subjektivem Entscheidungsspielraum untersucht wird.
Zum Inhalt
Das Stück beginnt mit seinem Ende: Galloudec schreibt von seinem Totenbett in einem Brief, dass er und sein Kompagnon Sasportas ihren Auftrag zurückgeben müssen, weil sie ihn nicht erfüllen können. Eigentlich hatten Galloudec, der Bauer aus der Bretagne, Sasportas, der Sklave, und ein Dritter im Bunde, Debuisson, Sohn von reichen Plantagenbesitzern auf Jamaika, vom Konvent der Französischen Republik den Auftrag bekommen, die in Frankreich siegreiche Revolution nach Jamaika zu tragen.
Das Stück begleitet die drei Emissäre nach Jamaika und untersucht, woran sie mit ihrem Auftrag scheitern. Dabei wird keine kontinuierliche Handlung erzählt, sondern über das Erinnern wird Szene für Szene durchgespielt, welche widerstreitenden Interessen da aufeinander treffen und wie weit geschichtliche Entwicklung und persönlicher Glücksanspruch auseinanderklaffen. Es gibt viele Traumsequenzen und Querverweise, die bis in unsere Tage reichen.
Wie „Der Mann im Fahrstuhl“. Ein namenloser Angestellter steht im Fahrstuhl und ist auf dem Weg zum Chef, der mit einem Auftrag auf ihn wartet. Er weiß nicht genau, wo das Büro ist und hat große Angst zu spät zu kommen. Plötzlich scheinen Raum und Zeit aus den Fugen zu geraten, und als die Fahrstuhltür sich öffnet, findet sich der Mann nicht mehr in seinem Bürohochhaus, sondern auf einer heruntergekommenen Straße in einem Armutsviertel in Peru wieder. Und er hat nichts als Furcht vor den Menschen dort und sieht die Ausweglosigkeit ihrer Situation.
Heiner Müller fragt im „Auftrag“ ob Fortschritt in der Geschichte immer mit schwer erträglichen Verlusten verbunden ist, und dass die Utopie „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ immer wieder der harten Arbeit bedarf. „Was die Menschheit eint, sind die Geschäfte“, heißt es im Stück. Aber Müller sagte auch: „Mein Interesse an der Wiederkehr des Gleichen ist ein Interesse an der Sprengung des Kontinuums.“
Entstehung des Stückes
1979 schrieb er dieses Stück nach der Erzählung von Anna Seghers „Das Licht auf dem Galgen“ (1961). Vor dem Hintergrund der Karibikgeschichte um Sasportas, Debuisson und Galloudec, die den Sklavenaufstand gegen England auf Jamaika initiieren sollen, der durch das Ende der Revolution durch den Putsch Napoleons scheiterte, setzte sich Anna Seghers in diesem Text mit dem Stalinismus auseinander. Bonaparte ist genau wie Stalin der Liquidator der Revolution. Heiner Müller sagte: „Wir wussten alle, nach der Revolution kommt Napoleon, aber wir wussten nicht, dass es auch bei uns so ist.“ Ihn interessierte das Motiv des Verrats, das Anna Seghers so beschrieb: Beim Halt auf einem Hügel in Jamaika, als in dem Jakobiner Debuisson – er hat die Nachricht vom 18. Brumaire bekommen und weiß, dass die Revolution vorbei ist – erstmals die „Stimme des Verrats“ zu sprechen beginnt, wird ihm bewusst, wie schön Jamaika ist. Bei einer Reise nach Mexiko und Puerto Rico fand Müller die Dramaturgie für dieses Stück.
„Der Mann im Fahrstuhl“ ist im zweiten Teil ein Traumprotokoll. Der Traum ist das Produkt eines nächtlichen Gangs von einem abgelegenen Dorf zur Hauptverkehrsstraße nach Mexiko City, auf einem Feldweg zwischen Kakteenfelder. Ab und zu seien dunkle Gestalten wie von Goya-Bildern aufgetaucht, die vorbeigingen, manchmal mit Taschenlampen, manchmal mit Kerzen. Es war ein „Angstgang durch die Dritte Welt“.
Die andere Erfahrung, die der Text aufnimmt, war Müllers Bittgang zu Honecker im Gebäude des Zentralkomitees und die Fahrt im Paternoster. In jeder Etage saß dem Paternoster gegenüber ein Soldat mit Maschinenpistole. Müller beschreibt das Gebäude des Zentralkomitees als Hochsicherheitstrakt für die Gefangenen der Macht. „Mich hat immer die Erzählstruktur von Träumen interessiert, das Übergangslose, die Außerkraftsetzung von kausalen Zusammenhängen. Die Kontraste schaffen Beschleunigung. Die ganze Anstrengung des Schreibens ist, die Qualität der eigenen Träume zu erreichen, auch die Unabhängigkeit von Interpretation.“
Bereits 1980 wurde dieses Stück in seiner Regie in der DDR an der Volksbühne uraufgeführt, 1981 folgten Aufführungen in der BRD unter anderem in Stuttgart. 1982 hat Heiner Müller den „Auftrag“ noch einmal inszeniert – in Bochum. Er sagt, es waren zwei vollkommen verschiedene Stücke: „in der DDR ein Zeitstück, in Bochum ein fernes Märchen.“
„Das ist die pessimistische Variante der Hoffnung, dass die Festung Europa auf Dauer gehalten werden kann. Alle diese Visionen unterschlagen, dass die Dritte Welt eine Macht ist, dass die, auf deren Kosten wir leben, dem nicht ewig tatenlos zusehen werden. Dazu bedarf es keiner militärisch- ökonomischen Stärke. Es reicht völlig, wenn sich diese Millionen Verelendeter in Bewegung setzen.“
Heiner Müller 1991 in einem Interview mit dem Verleger und Kritiker Fritz Raddatz
Für den Intendanten des Theaters Heilbronn und Regisseur dieses Abends, Axel Vornam, ist diese Inszenierung seine fünfte eines Heiner-Müller-Stückes. Ihm bereitet es ein intensives Vergnügen sich diesen Texten zu nähern, die sperrig, anstrengend und zutiefst philosophisch sind, in denen Dialoge mit Prosapassagen und Traumsequenzen abwechseln, die keine übergreifende Handlung erzählen und dennoch ein erstklassiger Rohstoff fürs Theater sind und aus seiner Sicht geradezu zu einer sehr sinnlichen Herangehensweise herausfordern. Müller sagte: Der Geschichtsprozess sei "zu unvernünftig geworden", um ihm mit den Formen des klassischen Theaters noch gerecht werden zu können.
Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution
Schauspiel von Heiner Müller
Regie: Axel Vornam
Bühnenbild: Tom Musch
Kostüme: Cornelia Kraske
Dramaturgie: Kristin Päckert
Es spielen: Sylvia Bretschneider (Frau/Mutter), Nils Brück (Matrose), Bettina Burchard (ErsteLiebe), Anjo Czernich (Galloudec), Stefan Eichberg (Debuisson), Oliver Firit (Antoine), Frank Lienert-Mondanelli (Vater), Sabine Unger (ErsteLiebe), Katharina Voß (Engel der Verzweiflung),
Alle (Mann im Fahrstuhl)
Weitere Vorstellungen. 27. 01., 29.01., 14.02., 18.02., 19.02., 24.02., 12.03., 02.04, 06.04., 19.04., 22.04., 05.05., 07.06. – jeweils um 19.30 Uhr im Großen Haus