Also geht er zur Erde hinab, in der Gestalt des Feldherrn Amphitryon – und verbringt eine Nacht mit dessen Frau Alkmene. Sehr zu ihrer Freude. Noch am gleichen Morgen kommt aber Amphitryon selbst nach Hause – nach heldenhaft gewonnener Schlacht kann er die Nacht mit Alkmene kaum erwarten. Ihre Begrüßung gibt allerdings seiner Lust einen schweren Dämpfer, denn sie sagt nur: Du schon wieder? So fangen Amphitryons Probleme an, die in der verzweifelten Frage gipfeln: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Und während Amphitryon und auch sein Diener Sosias sich mit plötzlichen Doppelgängern auseinandersetzen müssen, die ihnen immer und überall zuvorzukommen scheinen, sind ihre Ehefrauen Alkmene und Charis ständig konfrontiert mit Ehemännern, die sich rätselhafter Weise völlig unterschiedlich verhalten von Szene zu Szene ...
Auch die Götter sind verstimmt – Merkur ist es leid, das x-te Liebesabenteuer seines Chefs zu begleiten, und Jupiter beginnt, an seiner vermeintlich klugen Tarnung mehr und mehr zu leiden. Denn wie soll er Alkmene klarmachen, dass ihre Begeisterung für eine gelungene Nacht eben nicht ihrem Ehemann Amphitryon zusteht, sondern ihm, dem Gott als Mensch?
Wie die lange Dunkelheit, in die Jupiter die Erde taucht, damit er mehr hat von der Nacht mit Alkmene, legt sich eine bange Suche nach dem Kern des Selbst über die Figuren, seien es Götter oder Sterbliche.
Kleist wollte eine Komödie von Molière bearbeiten – und ihm gelang ein eigenständiges Glanzstück: das Lustspiel einer Grenzerfahrung. Eine existentielle Komödie. Der Untertitel „Ein Lustspiel“, den Kleist für sein Stück wählte, ist in all seiner ambivalenten Doppelbödigkeit für Regisseur Kay Neumann der Ansatzpunkt der Inszenierung. Sein großes Interesse gilt der Sprache Kleists – und der überlegten Art, wie Kleist sie einsetzte.
Denn die Ambivalenz und Doppelbödigkeit von Sprache ist selten mehr genutzt und ausgekostet worden wie in diesem Stück: Kleist fasst das Verwirrspiel, in das sich die Figuren verstrickt finden, in eine Sprache, die genial bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt ist - bis hin an den Punkt, an dem nichts mehr eindeutig ist. „Ich“ ist eines der am häufigsten gebrauchten Worte des Textes, aber nicht immer ist der, der dieses „Ich“ im Munde führt, sich auch dieses „Ichs“ noch sicher. Oder ist gar auch überein mit der Person, die es bezeichnen soll ...
Ist das Doppelgänger-Element seit jeher eine Thematik, die gleichzeitig komische und abgründig-dunkle Seiten enthält, steigert Kleist das Abgründige in „Amphitryon“ noch dadurch, dass es die Götter selbst sind, die als Doppelgänger die Menschen in Verwirrung stürzen: Jupiter als zweiter Amphitryon und Merkur als zweiter Sosias. Wenn also die Menschen in ihrer zunehmenden Verwirrung die Götter immer mehr um Beistand rufen, sind es genau diese Götter, die bei jeder Begegnung mit ihnen die Schraube weiter anziehen und noch mehr Öl nicht nur ins Feuer zweier Beziehungen gießen, sondern allmählich auch in Existenzen.
Die zentralen Themen des Stückes: Liebe und Lust, die Frage nach der Ich-Identität und die Angst des Selbstverlusts, sie sind sprachlich kongenial realisiert – im Kleist-Jahr 2011, anlässlich seines 200. Todestages, ein hervorragender Beleg für die überragende Qualität dieses Dichters. Und am Ende des Stückes, wenn Alkmene all das realisiert, was ihr widerfuhr, steht das berühmteste „Ach“ der Literaturgeschichte.
Regie: Kay Neumann
Bühne und Kostüme: Günter Hellweg
Es spielen: Yves Hinrichs (Jupiter), Michael Pempelforth (Merkur), Urs Rechn (Amphitryon), Tilo Krügel (Sosias), Daniela Keckeis (Alkmene), Muriel Wenger (Charis)