Dabei fing alles gut an: die Inthronisierung des vom Volk verehrten und von ihnen gelenkten jungen Mannes schien ihren Geschäften und der politischen Einflussnahme äußerst günstig.
Doch nach seiner Rückkehr ist der Kaiser wie ausgewechselt. Mit der willkürlich erscheinenden Demonstration seiner Macht und Ausübung der Staatsgeschäfte schockiert er die Honoratioren. Zur Sanierung des Staatshaushaltes sollen sie ihr Testament nur noch zugunsten des Reiches aufsetzen; und sie haben mit wahllos gefällten Todesurteilen zu rechnen: denn sie sind alle schuldig. Gnadenlos und tödlich konfrontiert Caligula die Besitzstandswahrer mit ihrer moralischen Verworfenheit und Bigotterie. Fern jeder Vorhersehbarkeit errichtet Caligula eine Schreckensherrschaft der reinen
Willkür; er möchte in einem Reich regieren, in dem das Unmögliche möglich wird. Er will die absolute Freiheit. Die Erkenntnis, dass die Menschen unglücklich sind und sterben, führt ihn auf einen Höllentrip, der dem Amoklauf eines Selbstmörders gleicht.
Albert Camus Ende der 30er Jahre – also im Alter von nicht einmal 25 – verfasstes Drama Caligula, das sich an der historischen Figur des berüchtigten römischen Kaisers orientiert, wurde sein größter Bühnenerfolg. Die Erfahrungen seiner Zeit mit Tyrannei und Diktatur mögen ihn aber nur bedingt
dazu motiviert haben. Dominanter sind Aspekte des Generationenkonfliktes, der Konfrontation des Einzelnen mit dem Absurden angesichts des Todes und ein von allen Werten und Ethiken entfesseltes Streben nach totaler Freiheit. Dadurch offenbart Camus Drama seine Aktualität.
Was bedeutet das sich selbst als absolut setzende Individuum für dessen Umwelt, das Gemeinwesen, den Staat? Wann bedroht die Freiheit des Einzelnen die anderen? Camus historischer Rückgriff wird zum Planspiel, zur
Versuchsanordnung eines Menschen, der über allen Gesetzen steht und mit ungeheurer Machtfülle ausgestattet ist. Ob seine in den Augen der Mitwelt grausamen Taten der Wahrheits- und Freiheitssuche dienen, der Revolte gegen das marode System oder der langsamen Selbstzerstörung –
diese Beurteilung wird dem Zuschauer anheim gegeben.
Ohne platt zu moralisieren schildert Camus Schauspiel das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Charaktere und Weltbilder mit diesem philosophischen Amokschützen. Sein Lehrer, sein Jugendfreund, seine Geliebte und vor allem die Patrizier als staatstragende Kaste – sie alle reagieren unterschiedlich auf das Phänomen Caligula, stellen sich ihm in den Weg oder werden von seinem
Charisma vereinnahmt; sie schmieden heimlich Komplotte und befolgen
öffentlich jede noch so wahnsinnig erscheinende Anordnung ihres Kaisers. Wie weit kann Caligula gehen, bis es zur Revolte gegen ihn kommt?
Martin Kloepfer hat sich bereits am Schauspiel Frankfurt in seiner Inszenierung von Die Pest mit dem Dramatiker, Romancier und Philosophen Albert Camus auseinandergesetzt. Mit seiner zweiten Arbeit an den Wuppertaler Bühnen legt er aus zeitgenössischer Perspektive die tieferen Schichten von Camus Frühwerk frei und macht sie für eine aktuelle Zeitanalyse fruchtbar. Die Widersprüche, die in Caligula dramatisch zum Vorschein kommen, sind unsere Widersprüche: zwischen angestrebtem
Individualismus und faktischem Kollektivismus, zwischen Freiheitsstreben und Anpassungszwängen, Machtwünschen und Machtlosigkeit.
Deutsch von Uli Aumüller
Inszenierung: Martin Kloepfer
Bühne & Kostüme: Oliver Kostecka
Dramaturgie: Sven Kleine
Mit:
Sophie Basse, Thomas Braus, Helmut Büchel, Gregor Henze, Klaus Hille, An Kuohn, Wolfgang Möser, Helmut Rademacher, Anne-Catherine Studer, Hendrik Vogt, Lutz Wessel, Julia Wolff
Die nächsten Vorstellungen sind am 29. Januar sowie am 06. / 09. und 27. Februar 2011 im Kleinen Schauspielhaus