Die hier von Wagner kühn entworfene Menschheits- und Weltdeutung verbindet die Kampf- und Schlacht-Historien antiker Tragödien (wie z. B. die der Orestie von Aischylos) mit dem Wissens- und Erkenntnisdrang des neuzeitlichen Individuums (wie z. B. dem in Goethes Faust) und fasst darin Mythos und Utopie, Ur-Zeit und Futur-Zeit in einem Gesamtkunstwerk zusammen, das spätestens seit den Neuinterpretationen von Wieland Wagner und Patrice Chéreau aus dem historischen Schatten des 19. Jahrhunderts herausgetreten ist und sich als ein die Zeiten überbrückendes und überdauerndes musikalisches Weltkulturerbe in der Gegenwart (!) manifestiert hat.
Diese Gegenwärtigkeit mag zunächst überraschen, wenn man Richard Wagners eigenen Entwurf zu seinem Nibelungen-Drama liest: „Dem Schoße der Nacht und des Todes “, heißt es da, „entkeimte ein Geschlecht, welches in Nibelheim (Nebelheim), d. i. in unterirdischen düsteren Klüften und Höhlen wohnt: Sie heißen Nibelungen; in unsteter rastloser Regsamkeit durchwühlten sie gleich Würmern in toten Körpern die Eingeweide der Erde; sie glühen, läutern und schmieden die harten Metalle. Des klaren edlen Rheingoldes bemächtigte sich Alberich, entführte es den Tiefen der Wässer und schmiedete daraus mit großer, listiger Kunst einen Ring, der ihm die oberste Gewalt über sein ganzes Geschlecht, die Nibelungen, verschaffte: So wurde er ihr Herr, zwang sie, für ihn fortan allein zu arbeiten, und sammelte den unermesslichen Nibelungenhort, dessen wichtigstes Kleinod der Tarnhelm, durch den jede Gestalt angenommen werde konnte, und den zu schmieden, Alberich seinen eigenen Bruder (…) gezwungen hatte. So ausgerüstet strebte Alberich nach der Herrschaft der Welt und alles in ihr Enthaltene.“
Doch was zu Beginn des Rheingolds als unschwer zu dechiffrierende Industrialisierungs-Metapher
daherkommt (mit unüberhörbar antisemitischem Unterton) wandelt sich noch im Laufe des „Vorabends“ zu einer höchst symbolträchtigen Doppel-Mythe über das Verhältnis von Zeit und Macht. Zeit: verkörpert durch Freias Äpfel, Macht: verkörpert durch diesen (verfluchten) Ring des Nibelungen, der seinem ersten Träger ebenso wenig Glück bringt wie all den anderen nach ihm, bis dass er im apokalyptischen Finale der Götterdämmerung dem Ur-Element zurückgegeben wird. Diese Doppel-Mythe ist noch einmal in sich selbst gedoppelt: Sie erzählt von der Geschichtlichkeit/Vergänglichkeit von Macht ebenso wie von der Macht der Geschichtlichkeit/Vergänglichkeit – und dies aus vielerlei Perspektiven: der des Politikers (Wotan und Loge) und der der Philosophin (Erda), der der Unterdrückten (Alberich und Mime) und der der (vorübergehend) Neureichen (Fasolt und Fafner), der der Liebenden (Siegmund und Sieglinde sowie Siegfried und Brünnhilde) und der der Ungeliebten und lieblos Hassenden (Gunther, Gutrune und Hagen) …
Hat die Geschichte ein gutes Ende? Das sagt sich nicht. Aber sie hat einen schlechten Anfang, wie fast alle großen Geschichten, die Geschichte auslösen … Der Biss in den Apfel, der Raub des Goldes … Und schon finden wir uns wieder auf einem jener seltsam anmutenden „Traumpfade“, die vom Mythos geradewegs in die Zivilisation führen, die bei Göttern, Riesen und Rheintöchtern beginnen und beim schnöden Morden „eindimensionaler“ Menschen enden, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Frage vereinen, wie wir heute leben wollen und die deshalb unser eigener Spiegel sind.
Wenn in Linz in den Spielzeiten 2013/2014 und 2014/2015 Richard Wagners Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend – Der Ring des Nibelungen – nicht nur in Gänze, sondern auch erstmals (dank des vortrefflich großen neuen Orchestergrabens) in der originalen Orchesterbesetzung aufgeführt werden kann, so ist dies zuallererst denen zu verdanken, die sich über Jahre und Jahrzehnte für die Errichtung eines neuen Musiktheaters in der oberösterreichischen Landeshauptstadt eingesetzt haben. – Das kulturpolitische Engagement verweist aber zugleich auf ein ästhetisches Gesetz, welches da heißt: Das Alte fordert das Neue.
Musik und Dichtung von Richard Wagner (1813 – 1883)
In deutscher Sprache mit deutschen, englischen und tschechischen Übertiteln
MUSIKALISCHE LEITUNG Dennis Russell Davies, Marc Reibel
INSZENIERUNG Uwe Eric Laufenberg
BÜHNE Gisbert Jäkel
KOSTÜME Antje Sternberg
VIDEO Falk Sternberg
DRAMATURGIE Wolfgang Haendeler
GÖTTER
WOTAN Gerd Grochowski
LOGE Michael Bedjai/Pedro Velázquez Díaz
FRICKA Karen Robertson
FREIA Sonja Gornik/Brit-Tone Müllertz
DONNER Seho Chang
FROH Pedro Velázquez Díaz/Iurie Ciobanu
ERDA Bernadett Fodor
NIBELUNGEN
ALBERICH Oskar Hillebrandt
MIME Matthäus Schmidlechner
RIESEN
FASOLT Dominik Nekel
FAFNER Nikolai Galkin
RHEINTÖCHTER
WOGLINDE Mari Moriya
WELLGUNDE Gotho Griesmeier
FLOßHILDE Valentina Kutzarova
CHOR DES LANDESTHEATERS
MITGLIEDER DES KINDER- UND JUGENDCHORES DES LANDESTHEATERS LINZ
STATISTERIE DES LANDESTHEATERS LINZ
BRUCKNER ORCHESTER LINZ
Weitere Termine 31. Oktober 2013; 12. und 20. November 2013; 1. und 25. Dezember 2013; 17.
Jänner 2014 und 1. Februar 2014 um jeweils 19.30 Uhr