Lose aneinandergereihte Szenen führen Musterbeispiele einer erkaltenden Zwischenmenschlichkeit vor: Da ist ein junger Top-Manager, dem eine Sandlerin prophezeit, am Folgetag noch bedeutender zu werden. Da ist eine sich selbst als Dornröschen bezeichnende Gestalt, die zudem unverblümt den sexuellen Kontakt mit dem Mann sucht (eine Art Wiedergängerin der Hexen aus Shakespeares Macbeth) und die Frau des Managers als nunmehr eifersüchtige Lady Macbeth. Den Manager selbst peinigen Schuldgefühle, als er erfährt, dass direkte Vorgesetzte ohne sein Zutun sterben und sich dadurch der schnelle Weg des Aufstiegs in die Vorstandsetage öffnet.
Da ist der erfolgreiche, mit seinem Eigenengagement protzende Geschäftsmann, der eine Gruppe von Langzeitarbeitslosen in die Beschäftigung zurückcoachen soll und ihn später in einer Gruppe phlegmatischer Obdachloser nach einem Organspender für seinen vom Tode bedrohten Sohn sucht.
Und dann ist da noch ein alternder Gigolo, ein Conférencier, der behauptet, nach Jahren unnützer Bewegung die Mitte, sein Zentrum gefunden zu haben.
Die Ökonomie des Verschenkens und die Ökonomie des Verkaufens stoßen immer wieder als unvereinbare Prinzipien aufeinander. Dazwischen tritt die Frage, ob Werte eine Beteiligung am Krieg begründen können, Fragen des christlichen Glaubens – ein Kaleidoskop von Themen und Motiven.
Wir leben in der besten aller bisherigen Welten. Der Fortschritt hat uns hier und heute dem Glück so nahe gebracht wie keine Generation zuvor. „Heutzutage hat jeder die Möglichkeit, sich in seiner eigenen Existenz voll und ganz zu verwirklichen... Jeder kann sich seinen Platz in der Gesellschaft verdienen.“ Das sagt eine Aristokratin in der Episode des Stückes, die 1901 spielt. Und davon sind wir auch heute noch alle beseelt. Wir wollen uns selbst verwirklichen, dabei erfolgreich sein, und dadurch glücklich. Doch das Verhältnis von Selbstverwirklichung, Erfolg und Glück erweist sich immer wieder als tückisch. Zu unser aller Erstaunen ist das Glück noch immer ein Vogerl. Selbst der Einsatz für eine bessere, gerechtere Gesellschaft ist kein Garant für persönliches Glück.
War früher doch alles besser? Wann früher? Zeigt sich doch bei genauer Betrachtung, dass die Probleme früherer Zeiten in unserer Weltgegend so weit weg von den unsren nicht sind. Oder warum etwa sprechen die alten Geschichten noch immer zu uns? Warum etwa berühren uns die Märchen noch immer? Warum können wir über uralte Texte lachen?
In einem halsbrecherischen Parforceritt jagt uns Pommerat durch einen Kosmos, der sich vom Jahr 1360 bis heute spannt und den wir erstaunt als den unseren erkennen.
Er selbst sagt dazu: „Alle Personen in diesem Stück, außer einer, sind wahr und authentisch. Alle Situationen in diesem Stück sind authentisch... sind Momente, die ich rekonstruieren wollte wie um ein Rätsel zu lösen, so wie man einen Mordfall rekonstruiert. Diese Geschichten sind komisch, manchmal auch hart oder schrecklich. Aber sie sind wahr.“
Nach der Uraufführung von Kreise/Visionen im Januar 2010 im Pariser Théâtre des Bouffes du Nord durch den Autor war in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen, dass man bei Pommerat einen Blick in „die Zukunft des Theaters“ werfen könne.
Deutsch von Gerhard Willert
Inszenierung Gerhard Willert
Bühne und Kostüme Alexandra Pitz
Musik Wolfgang ‚Fadi’ Dorninger
Dramaturgie Elke Ranzinger
Mit
Eva-Maria Aichner
Bettina Buchholz
Katharina Vötter
Jenny Weichert
Björn Büchner
Thomas Kasten
Klaus Köhler
Peter Pertusini
Joachim Rathke
Lutz Zeidler
PERSONEN
1914
Der Aristokrat
Die Aristokratin 1
Der erste Dienstbote (Philippe)
Die erste Dienstbotin (Elisabeth, Frau von Philippe)
Weitere Dienstboten
Der Oberst
Weitere hohe militärische Dienstgrade
Der Soldat
Weitere Soldaten
1901
Die Aristokratin 2
Die Amme
Der Butler
Weitere Dienstboten
Der Mann der Amme
Heute
Der Conférencier
2002
Vier Spaziergänger
(Zwei Männer und zwei Frauen)
1370
Der Ritter
Sein Lehensherr und sein Bischof
Ein Mönch
Ein Mann auf der Folterbank
2005
Ein Sänger
Der Mann
Sein Kollege
Der Finanzvorstand
Zwei obdachlose Frauen
Die Frau des Mannes
2007
Fünf Langzeitarbeitslose
Der Leiter des Arbeitsamtes
Der Unternehmer
Obdachlose
2009
Der Vertreter
Eine Männerstimme
Die melancholische Frau
JOËL POMMERAT
Der 1963 in Roanne geborene Joël Pommerat ist eine der herausragenden Persönlichkeiten des zeitgenössischen französischen Theaters. Seit der Gründung seiner Theaterkompanie im Jahr 1990, die den nebulösen Namen „Louis Brouillard“ trägt, realisiert er mit dieser Truppe ausschließlich eigene Stücke. Aus dieser ursprünglich auf sechs Jahre beschränkten Art des künstlerischen Zusammenwirkens entstand ein gewagtes Lebens- und Kunstprojekt: die Realisierung eines neuen Werkes pro Jahr mit denselben Schauspielern für die Dauer von vierzig Jahren. Am Ende dieses Weges, so Pommerat, „wäre jeder gewachsen, hätte sich entwickelt, wäre gealtert und dann in seiner Rolle gestorben.“
Joël Pommerat arbeitet seit 1998 als „artist in residence“ im Théâtre de Brétigny-sur-Orge und entwickelt dort mit seiner Kompanie neue, gattungssprengende Projekte, die im Austausch mit anderen Künstlern, Medien und dem Publikum entstehen. Seit 2007 ist er auch „artist in residence“ an Peter Brooks Pariser „Théâtre Bouffes du Nord“. Demnächst stellt ihm das „Théâtre de l’Europe/Odéon“ seine „Ateliers Berthier“ zur Verfügung.
Der internationale Durchbruch der Kompanie „Louis Brouillard“ erfolgte beim Festival von Avignon 2006. Treffenderweise verhalf gerade der sensationelle Erfolg des Stückes mit dem Titel Au monde (In der/an die Welt) dem Theaterensemble zu internationaler Bekanntheit. Seitdem werden Pommerats Stücke, wie etwa Cet Enfant (Dieses Kind), Le Petit chaperon rouge (Das Rotkäppchen) und Les Marchands (Die Händler) weltweit gezeigt.
Joël Pommerat bezieht die Stoffe seiner Stücke aus einer Vielzahl von Quellen. Er recherchiert in den Banlieues, verarbeitet neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Theorien, wie die des Franzosen François Flahault, schöpft aus Märchen- und Traumstrukturen, schafft Assoziationen zu Filmen von beispielsweise David Lynch oder Fellini … In der Verdichtung dieses Materials entstehen jenseits von Genres sinnliche und teils beängstigende Momentaufnahmen unserer Zeit.
Kreise/Visionen ist nach Ich zittere (1 und 2) das zweite Stück Pommerats, das am Landestheater Linz als Deutschsprachige Erstaufführung gezeigt wird.