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"Die Fremden" nach dem Roman „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud

In einer Fassung von Vasco Boenisch und Tobias Staab. Uraufführung.

Die riesige Kohlenmischhalle der ehemaligen Zeche Auguste Vikoria in Marl bietet eine grandiose Bühne. Im Rahmen der Ruhrtriennale spielt hier Johan Simons Inszenierung „Die Fremden“ nach Kamel Daouds Debütroman „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“. Das Buch wurde seit seinem Erscheinen 2014 (dt. Ausgabe Februar 2016) heftig diskutiert. Daoud, 1970 geboren, ist Autor und Journalist in Algerien; er schreibt kontinuierlich gegen das repressive Regime seines Landes und gegen die islamische Theokratie und deren gesellschaftliche Folgen. Er gilt deshalb als eine der wichtigsten kritischen Stimmen in der arabischen Welt. 2014 verhängte ein Salafist eine Fatwa gegen ihn (inzwischen aufgehoben) – wegen seiner Islamkritik und wegen seines Buches „Meursault“.

Der Titel „Die Fremden“ spielt auf Daouds Bezugspunkt an: Albert Camus' „L’Étranger“ („Der Fremde“) aus dem Jahr 1942, einer grundlegenden Schrift des französischen Existenzialismus'. Zum Geschehen in diesem Buch entwirft Daoud eine algerische Gegenperspektive. Camus lässt seinen vollkommen emotionslosen, fast nihilistischen Antihelden, Meursault, grundlos einen Algerier ermorden. Dieser hat bei Camus keinen Namen, sondern wird „der Araber“ genannt. Darauf baut Daoud seine Kritik am europäischen, kolonialen Wahrnehmungsmuster gegenüber der arabischen Welt auf. Dies kleidet er in eine Erzählung aus der Perspektive des Bruders des Opfers, und gibt beiden einen Namen: Moussa, der Ermordete, und Haroun, sein Bruder. So wird Haroun zur Hauptfigur des Buches und des Theaterstücks. Der Perspektivwechsel ist konstitutiv: Jeder der fünf Darsteller spielt neben einer weiteren auch die Figur Haroun – gibt also mehrere Perspektiven wieder, nimmt mehrere (Opfer-) Haltungen ein, erzählt mehrere Geschichten. Fremd bleiben sich die Figuren in ihrer Suche nach Antworten auf die bodenlose Gleichgültigkeit des Mörders, Camus‘ Protagonisten. Sie entzieht ihnen den Halt, und die finden keinen Adressaten; ihre Fragen verhallen in einer sich ausdehnenden, inneren Leere.

 

Das dunkle Stahlgerippe und der staubige, steinige Boden dieser immensen Halle tauchen die vielschichtige Gesamtinszenierung in stumpfes, tiefes Grau: das Schauspiel, das musikalische Ensemble Asko | Schönberg und die Videos von Aernout Mik. Die Mischmaschine, ein dunkler Koloss, füllt die 150 Meter Breite der Halle komplett aus und begrenzt den Bühnenraum zunächst nach hinten, ist als Objekt gewordene Monstrosität ein starkes Bild für die Lasten des kolonialen Erbes, an der die Einzelnen zerschellen. Als sich der Koloss langsam in Bewegung setzt und in die dunkle Tiefe der Halle verschiebt, weitet er den Bühnenraum endgültig in kafkaeske Dimensionen. Er lässt die Schauspieler als winzige Figürchen in einer Mondlandschaft zurück. Auch mit deren grotesken Verrenkungen, ihren Tänzchen und Läufen ist diese konkrete wie sinnbildliche Leere nicht mehr zu füllen.

Im Herzen der Szenerie ohne jedes weitere Bühnenbild ist das Orchester Asko | Schönberg unter der Leitung von Reinbert de Leeuw positioniert. Es bietet in kristallklarem Klang Stücke von Kagel, Vivier und Ligeti. Diese begleiten die zunehmende Absurdität und Groteske der Erzählung präzise und erzeugen die nötige Verdichtung und Konzentration, um das verzweifelte Auseinanderstieben der Figuren zu abzuwenden.

Miks Videos zeigen zunächst historische Filmsequenzen aus Algerien zur Zeit der französischen Herrschaft mit ihren alltäglichen Demütigungen, den Morden und dem Spott der Franzosen; dem Straßenchaos, den Demonstrationen und Zerstörungen im Kampf der Algerier bis zur Unabhängigkeit am 3. Juli 1962. Auf einer zweiten Leinwand erscheint die Kohlenmischhalle als fiktive Notunterkunft für Geflüchtete mit der dichten Atmosphäre von Anspannung und Ungewissheit, wie wir sie seit einem Jahr täglich in Fernsehbildern oder in der direkten Nachbarschaft sehen. Nur dass Mik die Rollen umkehrt: Die vorerst hier Gestrandeten in seinem Film sind heutige durchschnittliche Mitteleuropäer. Für solche – in jeder Hinsicht verwöhnt – ist es sicherlich nicht möglich, sich die Nachwirkungen von Kolonialismus und ein Leben in Repression oder Krieg auch nur ansatzweise vorzustellen.

Simons Ruhrtriennale-Motto „Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit?“ bietet an, das diffizile Feld der aufklärerischen Ideale ins Verhältnis zum europäischen Kolonialismus und insbesondere zu den heutigen Folgen mit den Mitteln des Theaters in ein klares Licht zu setzen. Zwar untertitelt Simon „nach dem Roman...“, tatsächlich hält er sich jedoch textlich zu genau an die äußerst polemische Vorlage, um die nötige Schärfe hervorzubringen. Solche Schärfe bietet Daoud in seinen Äußerungen, wenn auch nicht in „Meursault“, eigentlich an. Leider verfällt hier die Chance, eine wechselseitig befruchtende Diskussion über den Umgang mit dem gegenseitigen „Fremden“, über Ignoranz, Desinteresse und die kulturellen Unterschiede aufzunehmen, um die es Daoud eigentlich geht.

 

02., 03., 08., 09., 10. September 2016, 20:00 Uhr

04. September 2016, 17:00 Uhr

Kohlenmischhalle, Zeche Auguste Viktoria, Marl

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