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FIND 2017 - Festival Internationale Neue Dramatik: »Demokratie und Tragödie« in Berlin

Vom 30. März bis 9. April 2017, Schaubühne am Lehniner Platz. --

 

Die europäischen und westlichen Demokratien befinden sich in einem einschneidenden Umbruchprozess: Staatspleiten, stärkerer Einfluss von Wirtschaftsinteressen und Lobbyismus auf politische Entscheidungen, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Arbeitslosigkeit, Terrorismus, knappe Ressourcen, zurückkehrender Nationalismus und Rechtspopulismus bedrohen sozialen Frieden, Solidarität und offene Grenzen.

 

Vor dem Hintergrund dieses düsteren Panoramas versammelt das Festival Internationale Neue Dramatik 2017 unter dem Motto »Demokratie und Tragödie« Inszenierungen von international renommierten Theatermacher_innen. Seit der griechischen Antike sind Demokratie und Tragödie miteinander verbunden, denn hinter der attischen Demokratie stand die Erfahrung der Tragödie als politisches Bewusstsein und Beschreibung des Daseins. Die versammelte Öffentlichkeit sollte sich über die Darstellung all der Affekte und schuldhaften Verstrickungen, welche in der politischen Wirklichkeit verdrängt wurden, durch Mitleid und Erschrecken von ebenjenen reinigen.

 

Anknüpfend an diese Ursprünge des Theaters beschäftigen sich die bei FIND 2017 präsentierten Arbeiten mit dem aktuellen Stand der Demokratie, ihrer Gefährdung, ihrer verdrängten Schuld und ihren Widersprüchlichkeiten. Sie befragen das gesellschaftliche und familiäre Erbe, unsere Konzepte von Gemeinschaft sowie den Platz des Individuums darin und denken auf der Bühne darüber nach, wie wir in Zukunft zusammenleben können.

 

Angélica Liddell (Madrid) arbeitet zum ersten Mal an einem Ensemble-Theater und inszeniert mit Schauspielerinnen und Schauspielern der Schaubühne »Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken«.

 

März bis November 2016. Eine Küche im Hause der Gabriel Familie, South Street, Rhinebeck, ein kleiner Ort 100 Meilen nördlich von New York. In drei Stücken verfolgen wir in Momentaufnahmen in Echtzeit nicht nur die amerikanische Präsidentschaftswahl sondern auch ein Jahr im Leben einer Mittelklasse-Familie, die privaten Hoffnungen und Ängste der Familienmitglieder. Richard Nelson verwebt in seiner neuen Trilogie »The Gabriels: Election Year in the Life of one Familiy« große nationale Ereignisse mit kleinen Geschehnissen privatem Lebens und zeigt ein Porträt einer Welt, in der das Persönliche, das Gesellschaftliche, das Kulturelle und das Politische unzertrennbar miteinander verknüpft sind.

 

Aus der Perspektive der heutigen (Post-)Demokratie blickt Romeo Castellucci (Cesena) auf »Democracy in America« (1835) von Alexis de Tocqueville als Wendepunkt des europäischen Denkens über das Staatswesen. Assoziativ folgt Castelluccis Inszenierung der Geschichte dieses jungen Franzosen, der mit Erstaunen und Erschrecken auf die amerikanische Demokratie blickt.

 

»Tristesses« von Anne-Cécile Vandalem (Brüssel/Liège) spielt in einem Europa der Gegenwart, in dem Rechtspopulisten zunehmend Einfluss gewinnen, unter ihnen die nordeuropäische »Partei des völkischen Erwachens« von Martha Heiger. Auf der fiktiven dänischen Insel »Tristesses« wird die Leiche von Marthas Mutter gefunden. Sie hat sich erhängt und ist in eine dänische Flagge gewickelt. Martha kommt zur Beerdigung. Zwei junge Mädchen planen, die Politikerin, die ihre Zukunft bedroht, zu vernichten. Doch am Beerdigungstag kippt die Situation. Mit schwarzem Humor legt Vandalem die Hysterisierung gegenwärtiger Politik offen.

 

In ihrer neuen Arbeit »Hamnet«, einem Solo für einen 11jährigen Jungen, widmet sich das irische Theaterkollektiv Dead Centre William Shakespeares einzigem Sohn, der im Alter von 11 Jahren starb. Hamnet ist zu jung, um Shakespeare zu verstehen. Wir sind zu alt, um Hamnet zu verstehen. Es entwickelt sich ein Denkraum zwischen zwei Generationen, die sich befragen, welches Erbe sie weitergeben und erhalten wollen.

 

Das kolumbianische Kollektiv Mapa Teatro (Bogotá) zeigt »LOS INCONTADOS – Anatomía de la Violencia en Colombia: un triptico«, ein Panorama der Welle der Gewalt, die das Land seit über einem halben Jahrhundert bestimmt. Teil 1 verwandelt ein afro-kolumbianisches Ritual in eine delirierende Performance: Maskierte, als Frauen verkleidete Männer ziehen durch die Straßen und peitschen alle aus, die nicht maskiert und transvestiert sind. Teil 2 führt den Geist eines ermordeten Drogenmafia-Chefs vor, der im kolumbianischen Dschungel in Begleitung seiner Braut den Gespenstern der eigenen Vergangenheit in die Augen sehen muss. In Teil 3 wartet eine Familie vorm Radio auf die Nachricht einer Revolution, die nie stattfinden wird.

 

Christophe Meierhans (Brüssel) zeigt mit »Verein zur Aufhebung des Notwendigen« ein Abendessen über die Demokratie. Die Zuschauer bereiten nach einem von Meierhans verfassten Kochbuch ein Zwei-Gänge-Menü samt Apéro und Getränken zu. Die Küche wird zum Theaterkollektiv oder individuell getroffener, allgemein bindender Entscheidungen. Das Essen schmeckt so wie deren Summe – ein Experiment mit offenem Ausgang.

 

»Acceso« ist die erste Theaterarbeit des vielfach preisgekrönten chilenischen Filmregisseurs (»Neruda«, »Jackie«, »El Club«) Pablo Larraín (Santiago de Chile). Der Schauspieler Roberto Farías ist darin Sandokan, ein Außenseiter, der im Transantiago-Bus Billigprodukte an die Leute bringt. Nach und nach erzählt er aus seiner Vergangenheit, die geprägt ist von Armut, Gewalt und sexuellem Missbrauch, und entwirft eine schonungslose Anklage gegen ein tief korruptes System.

 

»Tijuana« des jungen mexikanischen Theaterkollektivs Lagartijas tiradas al sol (Mexiko Stadt) ist Teil eines Triptychons mit dem Titel »Die Demokratie in Mexiko« und basiert auf einem realen Selbstversuch: Autor und Performer Gabino Rodríguez arbeitet sechs Monate für den Mindestlohn unter falscher Identität in einer Montagefabrik der Grenzstadt Tijuana. Dabei wird er nicht nur mit menschenverachtenden Ausbeutungsmethoden und einer aus dem Versagen staatlicher Ordnung resultierenden Selbstjustiz unter den Arbeitern konfrontiert, sondern auch mit seinen eigenen Widersprüchen und sozialen Vorurteilen als bürgerlicher Künstler.

 

»Pendiente de voto« von Roger Bernat (Barcelona) lässt das Publikum in einem Wahl-Experiment über Fragen des Gemeinwesens entscheiden. Ausgerüstet mit Abstimmungsgeräten werden die Zuschauer zum Modell einer Öffentlichkeit, die individuell, zu zweit und in Gruppen Standpunkte verteidigen, andere überzeugen und Entscheidungen treffen muss.

 

»Iphigenia in Splott« von Gary Owen (Cardiff) erzählt die unmögliche Liebe der jungen Effie aus dem walisischen Arbeiterviertel Splott zu einem behinderten Ex-Soldaten.

 

»Sei, wer du nicht bist« von Saman Arastou (Teheran) stellt, ausgehend von der eigenen Figur des Autors, Regisseurs und Hauptdarstellers, die Situation von Transsexuellen im Iran ins Zentrum.

 

In »Please Excuse My Dear Aunt Sally« erzählt der US-Amerikanische Autor Kevin Armento die Geschichte eines Schülers, der ein Verhältnis mit seiner Mathelehrerin eingeht – alles aus der Perspektive eines Handys. Christoph Buchegger stellt das Stück in Form einer Werkstattinszenierung mit Ensemblemitgliedern zum ersten Mal einem deutschen Publikum vor.

 

In »From here I will build everything« verbindet der belgische Schauspieler Cédric Eeckhout, der bei FIND 2016 in Sanja Mitrovićs Produktion »Do You Still Love Me?« zu sehen war, in einem kurzen Stand-Up-Monolog seine persönliche Lebenskrise mit der Krise Europas.

 

Rund ums Programm erwarten Sie darüber hinaus Publikumsgespräche, eine Diskussion mit den Künstlerinnen und Künstlern zu »Demokratie und Tragödie« und eine Ausgabe des Streitraums zum Thema »Grenzen des Respekts – die radikalisierte Gesellschaft«.

 

Zum siebten Mal wird das Festival begleitet von FIND plus, dem Workshop-Programm für internationale Theaterstudierende, gefördert von der Allianz Kulturstiftung und dem Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW).

 

Programmüberblick

 

Donnerstag, 30. März

20.00: Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken

 

Freitag, 31. März

19.00 – 20.35: The Gabriels: Election Year in the Life of one Family. Teil 1: Hungry

20.00 – 22.30: Verein zur Aufhebung des Notwendigen

21.00: Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken

 

Samstag, 1. April

15.00: Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken

18.00 – 19.40: The Gabriels: Election Year in the Life of one Family. Teil 2: What did you expect?

20.00 – 20.55: Acceso

20.00 – 22.30: Verein zur Aufhebung des Notwendigen

21.00 – 22.45: The Gabriels: Election Year in the Life of one Family. Teil 3: Women of a Certain Age

23.30: FIND-Eröffnungsparty

 

Sonntag, 2. April

12.00: Podiumsgespräch »Demokratie und Tragödie«

14.00 – 15.35: The Gabriels: Election Year in the Life of one Family. Teil 1: Hungry

16.30 – 19.00: Verein zur Aufhebung des Notwendigen

16.45 – 18.25: The Gabriels: Election Year in the Life of one Family. Teil 2: What did you expect?

19.30 – 20.25: Acceso

20.30 – 22.15: The Gabriels: Election Year in the Life of one Family. Teil 3: Women of a Certain Age

 

Montag, 3. April

20.00 – 22.10: Tristesses

 

Dienstag, 4. April

20.00 – 22.10: Tristesses

20.30 – 21.45: Tijuana

 

Mittwoch, 5. April

19.30 – 20.30: Hamnet

21.00 – 22.15: Tijuana

 

Donnerstag, 6. April

19.30 – 20.30: Hamnet

21.00 – 22.20: Iphigenia in Splott

 

Freitag, 7. April

19.00 – 20.20: Iphigenia in Splott

20.30 – 21.40: LOS INCONTADOS – Anatomía de la Violencia en Colombia: un triptico

 

Samstag, 8. April

15.00 – 17.20: Pendiente de voto

17.00 – 17.45: Sei, wer du nicht bist

18.30 – 19.40: LOS INCONTADOS – Anatomía de la Violencia en Colombia: un triptico

20.00: Democracy in America

20.30 – 22.50: Pendiente de voto

23.00 – 23:25: From here I will build everything

 

Sonntag, 9. April

12.00: Streitraum: Grenzen des Respekts – die radikalisierte Gesellschaft

15.00 – 17.20: Pendiente de voto

16.00 – 17.00: Please Excuse My Dear Aunt Sally

18.00 – 19.10: LOS INCONTADOS – Anatomía de la Violencia en Colombia: un triptico

19.30: Democracy in America

20.00 – 20.45: Sei, wer du nicht bist

 

FIND wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

 

FIND plus findet statt in Zusammenarbeit mit der Allianz Kulturstiftung, dem deutsch-französischen Jugendwerk, dem Institut français, dem europäischen Theaternetzwerk Prospero und dem Conservatoire National Supérieur d’art Dramatique.

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