Gehen war für ihn keine Alternative, zu sehr fühlte er sich als Deutscher, die deutsche Sprache war sein Handwerkzeug, die deutsche Kultur seine Heimat. Bleiben aber bedeutete Arbeitsverbot, Erniedrigung und Todesangst. So versuchte er, sich unsichtbar zu machen und fand in seinem Tagebuch eine neue Lebensaufgabe: „Ich will bezeugen, das ist meine persönliche Heldentat“. Als Überlebender fand er ein spätes Glück in der DDR. Das eigene Haus stand noch im ausgebombten Dresden und er bekam es zurück. Auch an seine alte wissenschaftliche Karriere konnte er anknüpfen. Doch wieder musste er sich fragen, in der DDR bleiben oder in die BRD gehen?
Bei Erscheinen der Tagebücher 1995, lange nach Klemperers Tod 1960, erregten sie großes Aufsehen, wohl vor allem wegen der Mischung aus intelligenter politischer und gesellschaftlicher Analyse mit berührenden Beschreibungen eines persönlichen Schicksals. „Die Tagebücher, in denen genaueste Beobachtungsgabe, sprachliche Meisterschaft, aufklärerische Skepsis und menschliche Größe sich aufs glücklichste vereinen, stellen alles in den Schatten, was jemals über die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben wurde“, urteilte die Wochenzeitung „Die Zeit“.
Die Bühnenfassung der Tagebücher gewährt Einblicke in den Alltag eines Juden in Nazideutschland zwischen politischer Analyse, blanken Überlebensstrategien und immer wieder aufflammendem schwarzen Humor, ohne den diese Jahre wohl nicht zu überstehen gewesen wären. Und sie zeichnet ein Bild davon, dass nach 1945 nicht einfach alles wieder gut werden konnte für Menschen, die ein solches Schicksal erlitten haben. Und gleichzeitig stellt „Gehen - Bleiben“ die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens in politischen schwierigen Zeiten. Gab es für Victor Klemperer überhaupt die freie Entscheidung zu gehen oder zu bleiben?
„Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanistischster Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber: studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.“
Victor Klemperer, 1946
Inszenierung: Anne Schneider
Ausstattung: Thurid Peine
Dramaturgie: Maren Zimmermann