Die sexuelle Verführung ihrer Opfer ist nur Mittel zum Zweck. Sie soll den eigenen Vorteil sichern und dem anderen Schaden zufügen.
Müller schränkt die Personen der Handlung auf die beiden Antagonisten Marquise de Merteuil und ihren ehemaligen Geliebten Vicomte de Valmont ein. Die Marquise und der Vicomte reduzieren die Liebe auf Sex und reine Körperlichkeit – respektive auf das Reden darüber. In ständigem Rollenwechsel (Merteuil spielt Valmont, Valmont spielt Merteuil) fechten die zwei Figuren des Stücks einen Machtkampf aus, in dem Sexualität und Sprache zur Waffe geworden sind. Gekonnte Rhetorik und Perversion werden zum Ersatz für menschliche Beziehungen. Dabei zeigen sich jedoch auch die Leere und eine Art Endzeitmüdigkeit, die das durch Verstrickungen, Gewohnheit und unerfüllte Sehnsucht aneinander geknüpfte Paar verspürt. Gleichzeitig zeigen sie einen ausgeprägten Galgenhumor, der das Drama um komödiantische Elemente erweitert.
Die ‚Opfer’ behalten zwar ihre Namen – Tourvel und Volange –, doch sind sie nur noch Projektionsflächen für das Spiel von Merteuil und Valmont. Valmont plant die Verführung der für ihre Tugendhaftigkeit bekannten Präsidentengattin Madame de Tourvel. Von der Herausforderung sie zu erobern angetrieben, erhofft er sich eine leidenschaftliche Jagd. Mit diesem plötzlichen Gefallen an der Tugend und der Standhaftigkeit verletzt er Merteuil zutiefst. Merteuil wiederum bietet ihm ihre junge, direkt aus dem Kloster kommende Nichte, Cécile de Volange, zur Entjungferung an. Sie soll bald die Braut eines Grafen werden, mit dem Merteuil noch eine Rechnung zu begleichen hat. Sie bittet Valmont, sie mit dieser Tat zu rächen und bietet sich ihm im Gegenzug dafür noch ein letztes Mal an.
Interpretation
Was sich im Briefroman von Choderlos de Laclos ereignet, ist bei Müller ein irrsinniges Gedankenkonstrukt, ein perverses Spiel. Merteuil und Valmont steigen selber in die Rollen ihrer Opfer. Nach einem Vorspiel, in dem die Merteuil in wörtlichem Sinne einen Akt vorspielt, der ein imaginärer Geschlechtsakt sein könnte, werden die rhetorischen Duelle der wechselseitigen Herausforderung und Selbsterniedrigung zwischen Merteuil und Valmont durch drei grosse Spiel-im-Spiel-Partien unterbrochen.
Indem Valmont die Rolle der Präsidentengattin Tourvel übernimmt, die von Merteuil in der Rolle des Valmont verführt wird, oder Merteuil in der Rolle der Jungfrau Volange sich Valmont in der Rolle des Valmont hingibt, entsteht die Möglichkeit, die Szene der ‚Bestialität der Konversation’ zwischen Merteuil und Valmont um die Szenarien der ‚Schauspielkunst der Bestien’ zu erweitern. Diese zweite Spielebene dient der obszönen Lust und mündet im Ausloten und Übertreten jeglicher Grenzen von Blasphemie, sexuellem Akt und Mord.
Die beiden Figuren finden nur in dieser Art der Annäherung gegenseitige Anerkennung und letztlich Befriedigung. Die Körper sind nicht mehr fähig zu handeln, einzig die sprachlich ausformulierte Idee – die gedankliche Möglichkeit – hat noch die Kraft zu treffen.
„Quartett“
Von Heiner Müller
Nach dem Briefroman „Les liaisons dangereuses“ (1782) von Choderlos de Laclos
Inszenierung Erich Sidler
Komposition und Video* Philipp Ludwig Stangl
Kostüme Bettina Latscha
Merteuil Heidi Maria Glössner
Valmont Andri Schenardi
Musiker Mike Svoboda (Posaune)
Philip Zoubek (Präpariertes Klavier)
Philipp Ludwig Stangl (Live Electronic)
„Quartett“ entsteht in Zusammenarbeit mit dem Institut für Computermusik und Elektronische Medien (ICEM) der Folkwang Hochschule in Essen, wo die Produktion in der kommenden Spielzeit zu einem Gastspiel eingeladen ist.
(*) Die Videoaufnahmen mit Heidi Maria Glössner und Andri Schenardi in Kostümen der Zeit sind in einem Schloss am Genfersee, das in der Zeit der Entstehung der „Liaisons dangereuses“ gebaut wurde, gedreht worden.