Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Sizilianische NeoimpressionenSizilianische NeoimpressionenSizilianische...

Sizilianische Neoimpressionen

PALERMO PALERMO von Pina Bausch am 19.11. 2008 im Düsseldorfer Schauspielhaus

 

Laut krachend bricht eine Steinmauer zusammen. Die Bühne verwandelt sich in eine staubige Abbruchhalde, mitunter an eine antike Ruine erinnernd. Darüber stöckelt eine ätherische Schönheit, voller Verletzlichkeit und zugleich kapriziös. Prinzessinnenhaft kommandiert sie ihre Partner herum. Mal will sie umarmt und festgehalten werden, aber nicht so, sondern anders, dann tauchen Berührungsängste auf und sie verscheucht ihre Männer. Schließlich lässt sie sich mit matschigen Tomaten bewerfen, bis sie durchfeuchtet und wie von Blut verschmiert ist. Sie wird im Laufe des Abends noch mehrmals wie eine verlorene Seele über das Steinmeer laufen, aber auch als glamouröse Abenderscheinung auftreten.

 

Auf den Steinen wird schön eingedeckt für ein nobles Picknick: weißes Tischtuch, Weinglas, Leuchter, deliziöses Mahl. Auftritt eines pfiffigen Hundes, der in nobler, durchaus gesitteter Weise das Essen verputzt, um dann gemessen, aber unverzüglich wieder abzutreten.

Die Ruinenlandschaft wird zum Badeort, dann zur Müllkippe, wo sich in geschlossener Reihe die ganze Tanzgesellschaft ihres Zivilisationsballasts entledigt.

 

Eine dunkelhäutige Schönheit liebt es weiß, sie schmiert sich Zucker um den Mund, fordert ihren Partner dazu auf, sie zu küssen. Später erzählt sie von ihren Kindheitserlebnissen, als sie und ihr Bruder die besten Schneebälle formten und den Schnee so sehr liebten, dass sie ihn für den Sommer im Kühlfach aufbewahrten. Wieder schmiert sie sich Zucker auf den Mund und dann bietet sie ihn in ihrer Handfläche wie eine Koksdealerin den Zuschauern in der ersten Reihe an.

 

Eine Frau hält ein Bündel ungekochter Spaghetti in der Hand. Immer wieder betont sie, dass sie davon nichts abgibt, nicht eine einzige Spaghettistange, nein keine einzige, weil sie alle, alle ihr gehören, jede einzelne.

 

Ein Athlet, der sich Fleisch von seinem (präparierten) Arm säbelt, um es auf der Heizfläche eines Bügeleisens zu braten und zu verspeisen, in einer späteren Sequenz werden dann darauf Spiegeleier gebraten. Immer wieder versteckt er sich in einem spindeldürren Spind, mutiert von einem Boxer in rotem Bademantel, zur Drag-Queen, die sich mal als Adam mit Schlange und Apfel präsentiert, um sich dann zur personifizierten feder¬geschmückten Freiheitsstatue zu verwandeln.

 

Neben diesen und vielen anderen kleinen Episoden, die einzelne Tänzer in den Vordergrund stellen, gibt es immer wieder Gruppenformationen, so schreiten etwa zum Schluss die Tänzer in einer strikt nach Männern und Frauen getrennten Gruppe, untergehakt, im Wechselschritt, zu einer Art sizilianischer Trauermusik über die Bühne. Beerdigung von Mafiaopfern?

 

Pina Bausch hat eine ganz eigene Ausdrucksart, für die ihr Tanztheater von den Zuschauern über alles geliebt wird. So gibt es auch in "Palermo Palermo" typische Elemente, die in ihren Stücken immer wieder auftauchen, wie z.B. das Erzählen von Märchen und kleinen Geschichten, bestimmte Handbewegungen, die Integration der langen Haare in die Tanzbewegungen, ein besonderes über die Bühneschreiten, ein auf dem Trocknen Schwimmender, oder der Papierschnee. Ihr Theater ist ein Assoziationstheater, eine Reihe von getanzten Gedankensplittern.

 

“Palermo, Palermo”, am 17. Dezember 1989 uraufgeführt und in Zusammenarbeit mit dem Teatro Biondo-Stabile di Palermo entstanden, wurde jetzt anlässlich des "Internationalen Tanzfestivals NRW 2008, Tanztheater 3 Wochen mit Pina Bausch" am Düsseldorfer Schauspielhaus aufgeführt. Es ist kein fröhliches, sondern ein melancholisches Stück, trotz einiger humorvoller Episoden. Was assoziiert man mit der sizilianischen Hauptstadt Palermo? Etwa Mafia, Sonnenbrille, Tomaten, Machogehabe, Gewehr, Gewalt und Müll, Ruinen und heruntergekommene Gebäude, die italienische Mamma, die sizilianische Schönheit, Spaghetti. Und diese Klischees werden auch in "Palermo Palermo" bedient. Alles dies taucht auf, aber in was für einer Verwandlung! So erzählen denn die vielen kleinen Episoden auch nicht nur von einem Ort namens Palermo, vielmehr zeigen sie die Verletzlichkeit des Menschen, seine Ängste, Bedürfnisse, sein Bestreben nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.

 

Inszenierung und Choreographie: Pina Bausch

Bühne: Peter Pabst

Kostüme: Marion Cito

Musikalische Mitarbeit: Matthias Burkert

 

Tänzer/innen: Regina Advento, Pablo Aran Gimeno, Rainer Behr, Andrey Berezin, Clèmentine Deluy, Silvia Farias Heredia, Barbara Kaufmann, Thusnelda Mercy, Ditta Miranda Jasjfi, Nayoung Kim, Daphnis Kokkinos, Eddie Martinez, Dominique Mercy, Pascal Merighi, Cristiana Morganti, Nazareth Panadero, Jorge Puerta Armenta, Jean Laurent Sasportes, Franko Schmidt, Azusa Seyama, Julie Shanahan, Julie Anne Stanzak, Michael Strecker, Fernando Suels Mendoza, Aida Vainieri, Anna Wehsarg

Musik aus Sizilien, Süditalien, Afrika, Japan, Schottland, Renaissance-Musik, Blues und Jazz aus Amerika, Musik von Paganini, Grieg u.a.

 

In Kooperation mit dem Teatro Biondo-Stabile di Palermo und Andres Neumann International.

 

Foto: Francesco Carbone

"Palermo Palermo" Pina Bausch

Internationales Tanzfestival NRW 2008, Tanztheater 3 Wochen mit Pina Bausch

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 23 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

VERWIRRUNG BIS ZUM SCHLUSS -- "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano im Theater Atelier Stuttgart

Eine geschickt verwobene und raffinierte Handlung präsentiert Vladislav Grakovski in seiner Inszenierung des Kriminalstücks "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano. Spannung, Humor und…

Von: ALEXANDER WALTHER

BERÜHRENDE MOMENTE -- "Spatz und Engel" mit dem Tournee-Theater Thespiskarren (Produktion Fritz Remond Theater im Zoo, Frankfurt) im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

Edith Piaf und Marlene Dietrich stehen hier im Schauspiel mit Musik von Daniel Große Boymann und Thomas Kahry als zwei Göttinnen des Chansons im Mittelpunkt des Geschehens. Und es ist gar nicht so…

EIN ÜBERZEUGTER HUMANIST -- 5. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart in der Liederhalle Stuttgart

Das Stück "Felder...im Vorübergehen" für Streichorchester aus den Jahren 1993/94 von Bernhard Lang ist nicht so spektakulär wie seine Oper "Dora", besitzt aber durchaus charakteristische…

Von: ALEXANDER WALTHER

EIN BEWEGENDER FEUERREITER -- Liedmatinee - Verleihung der Hugo-Wolf-Medaille in der Staatsoper Stuttgart

Die New York Times bezeichnete das Liedduo Christian Gerhaher (Bariton) und Gerold Huber (Klavier) als "größte Liedpartnerschaft der Welt". Dies betonte Kammersängerin Christiane Iven in ihrer…

Von: ALEXANDER WALTHER

NEUE SPHÄREN IM LICHTKEGEL -- Sao Paulo Companhia de Danca im Forum am Schlosspark Ludwigsburg

Mit der Deutschen Erstaufführung von "The Eight" gedenkt der Choreograph Stephen Shropshire des 200. Geburtstags von Anton Bruckner. In den Kostümen von Fabio Namatame erklingt das Finale von…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑