In der Konfrontation der für die Argonauten unverständlichen, unsystematisierbaren Welt Medeas und dem rationalisierten Selbstverständnis der griechischen Helden verkehrt sich die Erfahrung des Eigenen als fremd und des Fremden als vertraut. Medeas Artikulationsformen, die laut Thomalla „eher Klang sind als Begriff“, ihre den anderen gegenüber weniger zweckorientierte als neugierige Haltung erschüttern Identität und Selbstverständnis der Argonauten. „Unter der Oberfläche der Konfrontation zwischen den Griechen und Medea verbirgt sich ein Konflikt, der die Problematik unseres Denkens im Herzen trifft: Den Konflikt von Natur und Begriff,“ so Thomalla.
Dieser Konflikt zeigt sich auch als wesentliches Charakteristikum von Thomallas Musik selbst: Seine Komposition bringt die Widersprüche der Gattung Oper zum Klingen: im Sich-Einlassen auf die klassische Medea-Vertonung Luigi Cherubinis, auf das Stimmfach des dramatischen Koloratursoprans und auf das Kollektiv des Staatsopernchors. Seine Arbeit zielt auf eine existentielle Theatererfahrung. Die Sprachen der Oper, wie Belcanto, dramatischer Orchestersatz und Chorgesang, lässt Thomalla auf eine Weise eine Geschichte erzählen, die das ganze Opernhaus erfasst.
Mit dieser Uraufführung verabschiedet sich der scheidende Opernintendant Albrecht Puhlmann vom Stuttgarter Publikum. In seiner ersten Oper, die der Komponist dem Staatsopernchor Stuttgart gewidmet hat, sind zahlreiche Solopartien ausgewählten Choristen auf den Leib komponiert. Anna Viebrock (Regie, Bühne und Kostüme) inszeniert mit dieser Arbeit erstmals an der Staatsoper Stuttgart. Die Musikalische Leitung übernimmt der international renommierte Experte für zeitgenössische Musik Johannes Kalitzke, der in der vergangenen Spielzeit bereits die Premiere von Chaya Czernowins Pnima in Stuttgart dirigiert hat.
Ein Kompositionsauftrag der Staatsoper Stuttgart
Oper in drei Szenen, einem Intermezzo und einem Epilog
Musikalische Leitung Johannes Kalitzke
Regie, Bühne und Kostüme Anna Viebrock
Licht Reinhard Traub
Chor Michael Alber
Dramaturgie Sergio Morabito
BESETZUNG
Medea Annette Seiltgen
Jason Stephan Storck
Kind 1 Julia Spaeth
Kind 2 Carlos Zapien
Die Argonauten 8 Altistinnen, 12 Tenöre und 18 Bässe des
Staatsopernchors
Tänzerin Geneviève Motard
Staatsorchester Stuttgart
Staatsopernchor Stuttgart
Weitere Termine: 6., 9. und 13. Juli 2011
Hans Thomalla ist Komponist der Uraufführung Fremd. Geboren 1975 in Bonn studierte Hans Thomalla Komposition an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Nach dem Studium ging er von 1999 bis 2002 an die Staatsoper Stuttgart, wo er u.a. als Produktionsdramaturg und musikalischer Berater der Dramaturgie tätig war. Von 2002 bis 2007 setzte er als Stipendiat des DAAD und der Stanford University seine Studien bei Brian Ferneyhough in Stanford, Kalifornien, fort, und schloss mit dem Doktor of Musical Arts ab.
Seit September 2007 ist er Professor für Komposition an der Northwestern University in Chicago.
Hans Thomalla erhielt mehrere Kompositionspreise, u.a. den Kranichsteiner Musikpreis, den
Christoph-Delz-Preis, den Geballe-Dissertation-Prize der Stanford University sowie jüngst den
Komponisten-Förderpreis der Ernst von Siemens Stiftung. Er erhielt Stipendien der MacDowell Colony, New Hampshire, und des SWR-Experimentalstudios. Seine Musik wurde bei zahlreichen Festivals gespielt, unter anderem in Tanglewood, Donaueschingen, Wien Modern, Witten, Takefu, bei der Münchner Biennale und den Darmstädter Ferienkursen, wo er 2010 auch als Kompositionsdozent lehrte. Portraits seiner Musik fanden 2005 beim Pariser Festival d’Automne, bei den Darmstädter Ferienkursen 2006, beim Festival Sommer in Stuttgart 2008 und bei den Züricher Tagen für Neue Musik statt. Im Sommer 2008 erschien eine CD mit Kammermusik von Hans Thomalla, gespielt vom Ensemble Recherche und Lucas Fels, in der Edition Zeitgenössische Musik bei Wergo.