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Theater Nestroyhof Hamakom: „Wien bekommt kein neues Theater, sondern ein altes holt sich seine Gegenwart zurück“

Mit dem neuen Leitungsteam Amira Bibawy & Frederic Lion wird die Bühne im 2. Bezirk im Herbst 2009 mit einem regelmäßigen Programm in ihre erste Saison starten.

 

Die Geschichte des Theaters im Nestroyhof ist über 100 Jahre alt, sie scheint sich im wiederholten Verschwinden ihre Gegenwart immer wieder zurückzuholen. Auch im heutigen fragilen Zustand, mit allen Spuren von Zerstörung, Verfall und Zweckentfremdung, vermittelt dieser Ort ganz unmittelbar ein Geschehen und einen Geist, in dem sich Künstler und Kulturmacher mit Selbstbewusstsein, Kraft und Vision verorten. Seine fatale Bürgschaft, seine historische Erhabenheit, seine ästhetische und örtliche Präsenz legen einen Topos frei, der Lust und Fantasie erzeugt, hier Spuren zu erkunden, um Geschichten der Gegenwart zu erzählen.

 

Das Theater Nestroyhof Hamakom startet im September 2009 seine erste

Saison. Es möchte dieses Haus im großstädtisch-dörflichen Gefüge des

zweiten Bezirks als Spielort für gesellschaftliche Reibungsflächen, Denkfelder

und Bewegungen, die sich hier und anderswo ereignen, programmieren. Aus

diesem Selbstverständnis heraus wird ein künstlerisches Gesamtkonzept

erarbeitet für Theater-Eigenproduktionen, Gastspiele und Koproduktionen

sowie für ein erweitertes, interdisziplinäres Programm für Literatur, Film,

Musik, Philosophie, Wissenschaft, Bildende Kunst oder dokumentarische

Ausstellungen. Die Projekte ordnen sich dem Spannungsfeld von

Auseinandersetzungen im aktuellen, globalen Kontext zwischenmenschlicher

und zwischenkultureller Bewegung, Ausgrenzung und Entgrenzung, Gedächtnis und Identitätskampf, Flucht und Zuflucht ein.

 

Im Nestroyhof, einem 1898 von Oskar Marmorek (Wiener Architekt und

zionistischer Wegbegleiter Theodor Herzls) erbauten Jugendstilzinshaus,

wurde im unteren Teil des Hauses das „Etablissement Nestroy-Säle“ eröffnet.

Die für die Wende zum 20. Jahrhundert neuartige Etablierung der jüdischen

Theaterkultur blieb weitgehend dem traditionell jüdischen Wohnbezirk,

der „Mazzes-Insel“, vorbehalten. Dort formierten sich jiddischsprachige

Ensembles, Kabaretts und Kleintheater und brachten Stoffe aus den

jüdischen Lebenswelten Wiens und des Ostens auf die Bühne. Das Theater im Nestroyhof schrieb sich ohne fassbare Linearität dem Geschehen an diesem Ort ein, an dem unterschiedliche Theatergruppen ihren Beitrag zum internationalen, modernen Großstadtleben leisteten. Nach dem Bankrott des „Etablissement Nestroy-Säle“ wurde das moderne Varietétheater „Folies Comiques“ eröffnet; unter anderem brachte die „Trianon“-Theatertruppe von Karl Kraus „Die Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind als Privatvorstellung zur österreichischen Erstaufführung. Zum später gegründeten „Theater Reklame“ wurden im Nebentrakt des Gebäudes ein Lichtspieltheater und im Keller die „Tanzbar Sphinx“ eingerichtet, die beide bis zum Fall von Stalingrad 1942 existierten.

 

Von 1904 bis 1918 leiteten Emil Richter-Roland und Oscar Friedmann das „Intime Theater“, eine literarische Kleinbühne, die österreichische Erstaufführungen von Gorki, Strindberg oder Maeterlinck, und später auch französische Lustspiele unter Emils Gattin Josefine produzierte. Aufgrund staatlicher Zensuren und Krisen konnte der Nestroyhof phasenweise auch nicht bespielt werden. Von 1927-1938 leitete Jakob Goldfliess die „Jüdischen Künstlerspiele“ im Nestroyhof, und fokussierte sein Programm zunehmend auf Themen des Antisemitismus. Er gewann renommierte jiddischsprachige Schauspieler und Ensembles für Auftritte und organisierte Gastspiele u.a. des „Jüdisch-Akademischen Theaters“ aus Moskau, den „Budapestern“ oder des hebräischsprachigen Ensembles „Habima“.

 

Verschwundene Jahre 1938 – 1997

Der ‚Anschluss’ im Sommer 1938 brachte das Ende der „Jüdischen Künstlerspiele“ sowie des gesamten jüdischen Theaterlebens in Wien. 1940 wurde das Haus Nestroyhof arisiert. Nach dem Krieg führte 1951 ein

Restitutionsverfahren zu einer außergerichtlichen, heute umstrittenen

Einigung zwischen den Erben der ursprünglichen letzten Besitzerin Anna Stein und der Familie Polsterer, in deren Besitz sich die Liegenschaft bis heute befindet. Das im Krieg beschädigte Haus wurde "…aus Fondmitteln des Bundesministeriums für Handel- und Wiederaufbau in den Jahren 1956/57 unter dem Bundeskanzler Ing. Julius Raab wiederhergestellt." In der Folge wurde das Theater im Haus Nestroyhof von den Eigentümern bis zum Jahre 1997 an mehrere österreichische Supermarktketten vermietet. Nach deren Auszug wurden die eingezogenen Zwischenwände entfernt und die außergewöhnlichen Theaterräumlichkeiten wiederentdeckt, die in einer schicksalhaften Ironie gerade durch die zweckentfremdete Nutzung

unbeschädigt geblieben waren.

 

Wiederentdeckung des Theaters 2004 – 2007

Nach der Wiederentdeckung setzten sukzessive Bestrebungen zur Wiederherstellung dieses Kulturraums ein. RegisseurInnen und

KulturinitiatorInnen (Theatercombinat, Thyssen-Bornemisza Art Contemporary Foundation, Markus Kupferblum, Robert Quitta, Wiener Wortstaetten, Susanne Höhne, Deborah Gzesh, Frederic Lion u.a.) bezogen sich auf den Ort mit Produktionen um Themenkreise wie Emigration und Diaspora, Rassismus und Ausgrenzung. Die nicht eindeutig gesicherten Mietverhältnisse und fehlende inhaltliche und organisatorische Profilierung verunmöglichten jedoch langfristige konzeptionelle Planungen. Ende 2007 schließlich wurde von den Mehrheitseigentümern die Beendigung der kulturellen Nutzung zu Gunsten einer neuerlichen kommerziellen Verwertung der Räumlichkeiten angedacht.

 

Neuinitiative im Jahr 2008

Im Mai 2008 startete eine neue Initiative, der es mit privaten Fördermitteln

gelang, mit den Eigentümern ein unbefristetes Mietverhältnis für die Nutzung der Theaterräumlichkeiten einzugehen und sie so vor der neuerlichen Zweckentfremdung zu retten. Dazu wurde eine Gesellschaft gegründet (Hamakom / Theater- und Veranstaltungs GmBH), die für das Projekt ‚Theater Nestroyhof Hamakom’ die Räumlichkeiten und eine dementsprechende Grundinfrastruktur zur Verfügung stellt. Die Gruppe Theater Nestroyhof Hamakom (Theater Transit / Verein für darstellende und bildende Kunst) unter der Leitung von Frederic Lion und Amira Bibawy entwickelte daraufhin ein Konzept zur gesamten Bespielung des Hauses und

seiner längerfristigen Reaktivierung in die Wiener Theaterlandschaft. Dieses

Konzept wird nun für die Zeit von September 2009 bis Dezember 2013 vom

Kulturamt der Stadt Wien gefördert. Die Initiative bemüht sich auch um die

Realisierung der längerfristig notwendigen Restaurierung des Theaters und

erhielt dazu einen Baukostenzuschuss von der Stadt Wien.

 

In Progress

Das Theater Nestroyhof Hamakom befindet sich seit dem Neustart 2008

‚in progress’, in einer Phase also, in der Projekte, deren Umsetzungsund

Kommunikationsrahmen, sowie haustechnisch notwendige Arbeiten und Unterstützungsmöglichkeiten, auch in offener Zusammenarbeit mit professionellen und kreativen Unterstützern entwickelt werden. Bisher wurden in dieser Aufbauphase unterschiedliche kleine Projekte realisiert, Eigenproduktionen wie ‚7 Tage Schlagzeilen’, ein Lesungs- und Ausstellungsprojekt zu den Novemberpogromen, Symposien wie Jan

Tabor’s ‚Experimentelle Architektur’ oder Gastprojekte wie die Ausstellung

‚Women in the Holocaust’ von Yad Vashem.

 

Im September 2009 wird das Haus mit einem regelmäßigen Programm in seine erste Saison starten, wesentlich dabei ist jedoch, dass der Ort auch weiterhin in seiner inhaltlichen Ausrichtung dem ‚in progress’ Gedanken eng verbunden bleibt.

 

Auf dem Theaterprogramm stehen Eigenproduktionen von Gegenwartsautoren, die Dramatisierung unterschiedlicher Textvorlagen sowie die Entwicklung von Theaterprojekten mit inhaltlich und performativ experimentalen Zugangsweisen und vielfältigem Quelleneinsatz.

 

Die montags im Theater stattfindenden Salons knüpfen an die Tradition des gesellschaftlichen Treffpunkts für Diskussionen, Lesungen, musikalische oder politische Veranstaltungen an und geben dem Wort „ha Makom“ (der Ort) eine weitere Dimension.

 

Zu Gast im Theater Nestroyhof Hamakom: Mit nationalen und internationalen Gastspielen und Koproduktionen, die konzeptionell die Identität des Hauses untermauern, wird unterschiedlichen Kunstschaffenden eine Plattform geboten und das Haus /der Ort um vielfältige, inhaltliche wie universelle Sichtweisen bereichert.

 

Bereits im Vorfeld zur Eröffnungsproduktion finden am 26. Oktober und am 2. November zwei Veranstaltungen im Rahmen des Montags-Salons im Theater Nestroyhof Hamakom statt:

 

Den Auftakt der Salon-Reihe macht die Lesung „Schlagzeilen 2000. Österreich im Spiegel der Auslandspresse“ und greift für den Nationalfeiertag am 26. Oktober ein Thema aus der allerjüngsten österreichischen Zeitgeschichte auf, es lesen Ari Rath und Vera Borek.

 

Am 2. November präsentiert die israelische Performance-Künstlerin Anat Stainberg ihr Projekt „Holiday Pictures“, ein Dialog zwischen Video und Live-Performance, zu dem wir schon jetzt herzlich einladen und um Ankündigung in Ihrem Medium bitten.

 

Wie bereits erwähnt, präsentiert das Theater Nestroyhof Hamakom zum Auftakt die Eigenproduktion "Rückkehr nach Haifa / Small Talk" des israelischen Erfolgsautors Ilan Hatsor. Die österreichische Erstaufführung wird unter der Regie des künstlerischen Leiters des Hauses, Frederic Lion, auf die Bühne gebracht, der mit dem Stück einen fremdnahen Blick auf das ambivalente Verhältnis linker Israelis und Palästinenser wirft. Premiere: 3. November 2009.

 

Gleich im Anschluss die Produktion “Rückkehr nach Haifa / Small Talk” präsentiert das Theater Nestroyhof Hamakom die nächste Eigenproduktion, das internationale Festival “El Hakawaty. Palestine / Monologues”. ‘El Hakawaty’ heißt auf Arabisch ‘der Erzähler’. Die Kunst des Erzählens und seine Traditionen sind vielfältig, doch immer geht es um ästhetische Formen subjektiver Geschichtsverarbeitung. Präsentiert werden Theaterstücke, Lesungen und Vorträge, Tanz, Konzert- und Filmvorführungen - Perspektiven palästinensischer Monologe, die mit anderen Welten, Dramen und Visionen in Verbindung stehen. Vom 14.-24. November im Theater Nestroyhof Hamakom!

 

Theaterprogramm Herbst 2009 – Frühjahr 2010

Im Oktober 2009

Small Talk oder Rückkehr nach Haifa

von Ilan Hatsor

Österreichische Erstaufführung

Eigenproduktion des Theater Nestroyhof Hamakom

Regie: Frederic Lion

Mit: Doina Weber, Fritz Hammel, Eduard Wildner, Hanno Koffler

 

Im Jänner 2010

Tanzcafe Treblinka

von Werner Kofler

Eigenproduktion des Theater Nestroyhof Hamakom

Regie: Frederic Lion

Mit: Ernie Mangold u.a.

 

Im Dezember 2009

Hennir

von Antonio Fian

Uraufführung, Gastproduktion

Regie: Hanspeter Horner

Mit: Isabella Karajan u.a.

 

Im Februar 2010

Ihre Hände auf der Schwelle

Gastproduktion

Zusammenstellung & Regie Shimon Levy

Mit: Henriette Cejpek

 

PROGRAMMAUSBLICK

Produktionen in Planung 2010/2011

‚Dybbuk’ Projekt

Eigenproduktion

Regie: David Maayan

Berties Nightclub

Lyrikrevue nach Bertolt Brecht

Eigenproduktion

Regie: Frederic Lion

Ich & Ich

von Else Lasker-Schüler

Eigenproduktion

Regie: Michael Gruner

‚Das Bankett’ Projekt

Gastproduktion

Regie: Bert Gstettner

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