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Todesengel und springlebendige Wohlstandsleichen

„Hörst du mein heimliches Rufen“ von Thomas Jonigk im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Copyright: SEBASTIAN HOPPE

Achtung! Der Mann ist ein grinsender Höllenhund des Kapitalismus. Als Toprepräsentant eines deutschen Rüstungskonzerns verströmt er ein unverschämtes Maximum an selbstzufriedener Arroganz. Gleich zu Beginn hält er eine köstliche Rede an Mitarbeiter und Gäste, in der er die Rolle der Waffenindustrie als globale Demokratieförderung preist. Dass er sich dabei auszieht bis auf die blutbefleckte Unterhose (Feinripp mit Eingriff), kitzelt unsere Lachmuskeln und ist eine gelungene Überleitung zum weiteren Verlauf des Stücks, der sich in der Privatsphäre des Mannes abspielt.

 

Unmittelbar nach seiner glanzvollen Ansprache wird er nämlich fristlos gekündigt. Niemand weiß warum, und er hält sich auch nicht mit Reflexionen über die Entlassungsgründe auf, sondern beschließt zügig, sich zu erschießen. Seinesgleichen existiert ja sowieso nicht mehr ohne Job.

Nun tritt der Tod auf den Plan, ein schlechtgelaunter, verschwitzter älterer Mann in Schwarz mit kleinbürgerlichem Habitus und einem Faible für Käsebrote. Aber mit ultimativer Macht. Er stellt sich in der lieblos eingerichteten Wohnung des Mannes auf und verordnet ihm einen kurzen Aufschub. Wie man ihn eben braucht, um vor dem Tod noch eine Lebensbilanz zu ziehen.

Eine solche kann bei gehoben-bürgerlichen Raffzähnen nur schaurig und gleichzeitig kläglich ausfallen, das wissen wir als sturmerprobte Besucher moderner Theaterstücke. Und wirklich, es sieht schlimm aus. Die kränkelnde, kinderlose Ehefrau ist gealtert und somit als Statussymbol nicht mehr vorzeigbar, also plant der Mann seit einiger Zeit die Scheidung. Die Gemahlin zieht alle Schwerter für die üblichen Rückzugsgefechte, ist aber doch in Abhängigkeit von ihrem großverdienenden Gatten befangen und findet nur mit äußerster Mühe den Absprung. Dann ist da der angejahrte Adoptivsohn, der ununterbrochen den Aufstand probt und ein Alternativkonzept zur Lebensweise des Alten sucht. Das ist aber teuer, deshalb muss er immer wieder um Unterstützung bei diesem verhassten Exponenten des verrotteten Kapitalismus betteln. Gleichzeitig liebt er freilich ödipal seine Stiefmutter und versucht, sie auf seine Seite zu ziehen. Anstrengend ist das.

 

Und noch etwas: die Zwangsprostitution von vorwiegend aus dem Osten der Weltkarte stammenden Frauen ist ein logisch zu begründender, ja notwendiger Wurmfortsatz des westlich-kapitalistischen Ausbeutersystems. Also stürmt eine russische Hure mit überwältigendem Temperament in den Haushalt des Mannes. Auch sie protestiert gegen ihre Situation und dient sich gleichzeitig mit großer Verve dem Stammfreier als neue Ehefrau an.

 

Gottseidank wird am Schluss die Entzerrung des Dilemmas vollzogen, indem der Mann jetzt mit Erlaubnis des miesepetrigen Todesengels den Revolver zückt und Familie plus Prostituierte in Trauerkleidern zurücklässt.

 

Das Stück von Thomas Jonigk, kürzlich in Frankfurt uraufgeführt, entfesselt einen amüsanten, manchmal sogar abgründigen, witzigen Kehraus der Kapitalismuskritik. Auffallend und speziell daran erscheinen mir zwei Elemente:

Zum Einen verrät sich darin eine kaum verhohlene Vorliebe für die Lebenswelt des Protagonisten, die alle Anklagen mit einem augenzwinkernden Wohlwollen nivelliert.

Zum Zweiten zeigt die Figur des Todesengels eine Tendenz, die da und dort im Theater anhebt. Nämlich den Einzug oder Wiedereinzug von Geisterfiguren auf der Bühne, der aufregend und belebend ist, selbst wenn wie hier ein spießiges Menschenkind als Verkörperung sein Unwesen treibt.

 

Stefan Bachmann ist einer der bedeutendsten Regisseure der jüngeren Generation. Und in einem fruchtbaren Arbeitsverhältnis mit Thomas Jonigk verbunden. Seine Inszenierung ist genau, fantasievoll und spannend. Die Darsteller sind unter seiner hervorragenden Leitung alle wunderbar: Pierre Siegentaler als munterer, rücksichtsloser, irgendwie auch unpersönlicher Todeskandidat, Susanne Tremper als aufbegehrende Ehefrau, Christoph Müller als peinlicher Adoptivsohn, Horst Mendroch als allzumenschlicher Todesengel - und ganz besonders Melanie Kretschmann als schöne, wilde, ordinäre, wortgewaltige Hure.

 

Ein Bravo für diesen Einstand der neuen Ära im Düsseldorfer Schauspielhaus!

 

Premiere am 30. September 2006 im Düsseldorfer Schauspielhaus, Kleines Haus.

 

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