So steht es im Testament. Weiter hinterlässt sie ihren Kindern zwei Briefe: Einen für Jeanne, aber die soll ihn nicht lesen, sondern ihrem totgeglaubten Vater geben. Einen für Simon, aber der soll ihn nicht lesen, sondern seinem Bruder geben, von dem er bisher nichts wusste. Damit beginnt die Spurensuche im verschollenen Leben der Mutter, die sich zwischen einer westlichen Großstadt und einer vom Bürgerkrieg erschütterten Dorfgemeinschaft im Nahen Osten erstreckt. Sie erscheint wie eine Reise in die tiefste Vergangenheit – und findet doch im Hier und Heute des 21. Jahrhunderts statt.
Als 14-Jährige verliebt sich Nawal in ihrem Heimatdorf in den Flüchtlingsjungen Wahab und wird schwanger. Nawals Mutter ist unerbittlich: Das Kind wird ausgetragen, dann kommt es weg – in ein entferntes Waisenhaus. Auch Wahab muss das Dorf verlassen. Nawal ist verzweifelt, kann sich aber nicht wehren – als Frau ohne Bildung hat sie nicht die geringste Chance, sich gegen die strengen Regeln der Dorfgemeinschaft durchzusetzen. Ihre Großmutter rät ihr, lesen und schreiben zu lernen. Nawal geht fort, um zu lernen, und wird nur noch ein einziges Mal ins Dorf zurückkehren, um ihr Versprechen einzulösen: den Grabstein ihrer Großmutter mit deren Namen zu versehen. Als sie das Dorf wieder verlässt, um ihren Sohn zu suchen, schließt sich ihr Sawda an, ein Mädchen aus dem angrenzenden Flüchtlingslager. Die beiden Frauen verbringen viele Jahre gemeinsam mit der Suche nach Nawals Sohn. Sie bewegen sich durch ein vom Bürgerkrieg erschüttertes Land, das im Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt gefangen ist. Sie leisten Widerstand gegen die verbrecherische Militärregierung.
Jeanne und Simon nähern sich Stück für Stück dem sorgfältig gehüteten Geheimnis ihrer Mutter Nawal, das sie dazu zwingt, die eigene Identität zu hinterfragen. Wajdi Mouawad erzählt eine vielschichtige Tragödie mit nahezu antiker Wucht. Er verwebt die gegensätzlichen Realitäten des krisengeschüttelten Nahen Ostens und des sicheren Westens, zeigt individuelle Lebensgeschichten wie auch den kollektiven Kollaps des Krieges. Sein Stück ist ein als Krimi getarntes Puzzlespiel, das letztlich die Komplexität einer widersprüchlichen Gegenwart aufzeigt.
Zum Autor
Wajdi Mouawad, Schauspieler, Autor und Regisseur, geb. 1968 im Libanon, aufgewachsen in Frankreich, lebt heute in Kanada. Dort gründete und leitete er ein eigenes Theater in Montréal und avancierte zu einem der führenden neuen Talente im frankokanadischen Sprachraum. Unter dem Titel Incendies wurde Verbrennungen 2003 in Montréal uraufgeführt. 2007 wurde das Stück in rascher Folge an den Theatern in Nürnberg, Göttingen und am Wiener Burgtheater aufgeführt. Für Littoral (Küstengebiet) erhielt Mouawad 2005 den Prix Molière als bester frankophoner Autor. 2008 erfolgte die Uraufführung des Stücks Le soleil ni la mort ne peuvent se regarder en face (Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen) in Bordeaux, das kurz darauf an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin zur Deutschsprachigen Erstaufführung kam. 2009 ist Mouawad als künstlerischer Berater für das internationale Festival d‘Avignon berufen worden.
Inszenierung Anna Badora
Bühne Raimund Orfeo Voigt
Kostüme Uta Meenen
Dramaturgie Regula Schröter
Musik Gerd Bessler
Licht Gerhard Fischer
Mit Götz Argus, Otto David, Pauline Knof, Florian Köhler, Gustav Koenigs, Steffi Krautz, Verena Lercher, Sebastian Reiß, Dominik, Warta, Andrea Wenzl
Weitere Vorstellungen am 13., 17. und 28. April sowie am 6., 12. und 28. Mai 2010, jeweils 19.30 Uhr, Hauptbühne