Sie nehmen äußere Strukturen wahr, doch durch eine winzige Beschädigung der visuellen Zonen im Gehirn verlieren sie die Fähigkeit, alltägliche Gegenstände ihrem Nutzen nach einzuordnen. Genau dieses Phänomen beobachtet der Neurologe Dr. S In Michael Nymans Kammeroper DER
MANN, DER SEINE FRAU MIT EINEM HUT VERWECHSELTE nach dem Buch-Klassiker von Oliver Sacks: Er wird Zeuge davon, wie sein Patient, Dr. P, versucht, sich den Kopf seiner Frau als Hut aufzusetzen – Grund genug für eine intensive Endeckungsreise in das Innere des Erkrankten. Mittels umfangreicher Untersuchungen gelingt es Dr. S, eine Diagnose zu stellen. Das Ergebnis ist niederschmetternd und ermutigend zugleich: es besteht zwar keine Chance auf die Heilung der Krankheit, doch es besteht die Möglichkeit, den Alltag des Patienten neu zu strukturieren und ihm dadurch den Umgang mit dem Leiden zu erleichtern.
Das Lösungsprinzip lautet: Wenn die Außenwelt nicht mehr visuell wahrgenommen werden kann, muss man auf andere Mittel zurückgreifen. Und da Herr P Musiker ist, liegt diese Kunst als Ersatz-Medium auf der Hand.
Als der britische Komponist Michael Nyman, der vor allem durch seine Filmmusiken zu DAS PIANO oder PROPEROS BÜCHER bekannt ist, erstmals den nach wahren Begebenheiten entstandenen Bestseller von Oliver Sacks las, war er so begeistert, dass vom ersten Lesen bis zur Uraufführung der
Kammeroper im Oktober 1986 nicht einmal ein Jahr verging. Äußerst sensibel und mit vorsichtiger Empathie lässt er in seiner Kammeroper das Krankheitsbild des Dr. P musikalisch eingängig erkennen. Dazu bedient er sich Elementen, die an den Stil des Komponisten Philipp Glass erinnern, melodisch immer wiederkehrenden Intervallen und musikhistorischen Zitaten, die sich harmonisch mit seinem sanften Avantgardismus mischen.
Für das Regieteam Hans Walter Richter (Inszenierung) und Bernhard Niechotz (Bühne und Kostüme) ist die Inszenierung von DER MANN, DER SEINE FRAU MIT EINEM HUT VERWECHSELTE die achte Zusammenarbeit auf dem Terrain der Kammeroper. Bewusst zeigen sie in ihrer Interpretation dieser spannenden Fallstudie beide Welten gleichberechtigt als existentielle Möglichkeiten – aus der Sicht des Arztes und aus der des Patienten – überlassen jedoch ebenso bewusst eine Bewertung dieser Welten der Einschätzung des jeweiligen Betrachters. Sebastian Kennerknecht, der zuvor als Dirigent in Hamburg und Heidelberg tätig war, gibt mit der Einstudierung und der Musikalischen Leitung dieses Werks sein Debüt in Gießen.
Libretto von Oliver Sacks, Christopher Rawlence und Michael Morris
Deutsche Übersetzung von Bertram Dippel und Florian Kaplik
Musikalische Leitung: Sebastian Kennerknecht |
Inszenierung: Hans Walter Richter
Bühne und Kostüme: Bernhard Niechotz
Mit: Odilia Vandercruysse (Frau P ); August Schram (Dr. S), Tomi Wendt (Dr. P)