Ewald Palmetshofer begreift einen sogenannten »realen« Fall als pure Archaik. Die Psychogramme seiner Frauen stanzt er in seinem Stück ins Großmaß, Sprache verdichtet er zum harten, harschen, hochrhythmischen Idiom: eine Orestie ohne Orest. Auf der Folie der Antike leuchtet mehr auf als eine Nachkriegshistorie: Es stellt sich die Frage nach der Schuld an sich. Gibt es eine universale, nicht verhandelbare Gerechtigkeit – oder ist Gerechtigkeit immer auch Erzählung ihrer Zeit? Erringen wir sie in stetigem Miteinander zwischenmenschlich neu oder ist sie letztbegründet, größer als der Mensch?
Das Stück beginnt 70 Jahre nach dem Verrat. Die Tochter findet die greise Mutter nackt auf dem Boden und liefert sie in eine Klinik ein. Der Schlag, der die Alte traf, hat die Schleier der Vergangenheit zerrissen. Sie war es, die den Deserteur verriet. Und sie hat dafür bezahlt: für die Tat und dafür, dass sie sich weigerte, der »eignen Neugier Neigung Niedertracht … abzuschwören« – denn sie habe die Desertionsabsicht deutlich vernommen! Zwölf Jahre Gefängnis, danach war sie der Paria Mönchsdorfs, verachtet, verstoßen, sie und ihre Sippe. Die Tochter hasst die Mutter dafür und für ihr eigenes erbärmliches Leben. Die Enkelin, zu Besuch, ruft die Geister an, zerrt die alten Geschichten ans Licht. Hundsmäulige Weiber manifestieren sich als Protokollantinnen, Krankenschwestern, Wärterinnen. Sie umkreisen die drei Generationen der drei Frauen und die eine Schuld, die sie alle verseucht.
Laura Linnenbaum, Jahrgang 1986, studierte Diplom-Regie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Während dieser Zeit verwirklichte sie unter anderem Projekte für das Deutsche Nationaltheater Weimar, das Hamburger Thalia Theater sowie für die Heidelberger Schlossfestspiele und den Heidelberger Stückemarkt. Seit der Spielzeit 2011 inszeniert sie freischaffend sowie als Stipendiatin und Regieassistentin des Frankfurter Schauspiels. Neben anderem sind dort ihre Inszenierungen der Stücke Schlafes Bruder (Körber Studio Regie) und Eine Teufeliade entstanden. Weitere Arbeiten und Projektentwicklungen realisierte sie seitdem am Theater Bonn, am Staatstheater Darmstadt, am Staatstheater Saarbrücken, am Theater Osnabrück sowie am Thomas Bernhard Institut Salzburg.
2014/15 war Laura Linnenbaum Stipendiatin des regieSTUDIO Schauspiel Frankfurt und brachte dort MS Pocahontas von Gerhild Steinbuch und Vom Fischer und seiner Frau von Simon Paul Schneider zur Uraufführung. Für die Inszenierung Silent Noise – Projekt über Sylvia Plath wurde sie 2015 in der Fachzeitschrift »Theater heute« als Nachwuchskünstlerin nominiert. In der Spielzeit 16/17 werden von ihr außerdem am Theater Bonn, am Staatschauspiel Dresden und am Theater Chemnitz Arbeiten zu sehen sein. Am Staatstheater Kassel inszeniert Laura Linnenbaum zum ersten Mal.
Mit Sabrina Ceesay, Caroline Dietrich, Eva-Maria Keller, Ingrid Noemi Stein, Christina Weiser, Rahel Weiss.
Inszenierung: Laura Linnenbaum,
Bühne und Kostüme: Daniel Roskamp,
Musik: Dirk Raulf,
Dramaturgie: Annabelle Leschke
nächste Vorstellungen: 16., 22.12., 20.15 Uhr