Der Punkt, an dem diese beiden Entwicklungen sich begegnen, ist das Bewusstsein einer kulturellen Krise.
Während Leverkühn unter der Konventionalität und Abgenutztheit der vorhandenen kompositorischen Techniken leidet und daher nur parodistisch zitierend schreiben kann, ohne zum ersehnten "echten", "wahren", "authentischen" Ausdruck zu gelangen, empfinden weite intellektuelle Kreise in der Zwischenkriegszeit die Demokratie als eine "künstliche" Staatsform, die der "natürlichen" Autorität entbehrt.
Leverkühn infiziert sich absichtlich bei einer Prostituierten mit Syphilis, um in den exzentrischenZuständen, in die die Krankheit ihn versetzt, zu einer unbedenklichen, rauschhaften Schaffenskraft zu gelangen, ein Teufelspakt, den er nach 24 Jahren mit dem Verlust seiner geistigen Kräfte und schließlich seines Lebens bezahlt. Er "erfindet" in dieser Zeit die Zwölfton-Technik, die auf Thomas Manns Zeitgenossen und Bekannten Arnold Schönberg zurückgeht und die Thomas Mann als ein rigides Ordnungssystem beschreibt, das Leverkühn der kritischen Reflexion der eigenen Mittel enthebt und so zum Ausdruck "befreit".
Die Sehnsüchte, die der Faschismus befriedigt, sind in Thomas Manns Sicht ganz ähnlicher Natur: die Außerkraftsetzung der bürgerlichen Aufklärung, des Humanismus zugunsten einer entlastenden, rauschhaften Eingliederung in ein großes Volksganzes. Zuflucht vor den Anforderungen des neuzeitlichen Individualismus bei der bergenden Autorität einer gewalttätigen Ordnung ist in beiden Fällen die treibende Kraft.
Eine Lektüre des Romans zu inszenieren, die diese beiden Erzählstränge in der "dreifachen Zeitordnung" (Th. Mann) des Lesers auf die eigene Gegenwart bezieht und aktuelle kulturkritische Zerknirschungen ins historische Spiel bringt, ist das Vorhaben von "Doktor Faustus - my love is as a fever" in der Regie von Friederike Heller, die mit drei überaus erfolgreichen Handke-Inszenierungen in den vergangenen Akademietheater-Spielzeiten von sich reden gemacht hat.
Regie: Friederike Heller
Bühne: Sabine Kohlstedt
Kostüme: Johanna Preissler
Musik: Peter Thiessen/Michael Mühlhaus
Video: Philipp Haupt
Licht: Felix Dreyer
Dramaturgie: Sebastian Huber
Mit: Petra Morzé, Bibiana Zeller; Philipp Hochmair, Rudolf Melichar,
Felix Goeser, Michael Mühlhaus, Peter Thiessen