Ähnlich verhält es sich mit dem Roman von Günter Grass. Fünf Jahrzehnte nach Erscheinen der „Blechtrommel“ liest sich das Buch spannender denn je. Die Widerborstigkeit, der sarkastisch-ironische Blick und der Eigensinn des Oskar Matzeraths zeigt heute wie damals eine große Leerstelle der bürgerlichen Zivilgesellschaft, das Fehlen von Verweigerung und Wut:
An seinem dritten Geburtstag beschließt Oskar Matzerath, nicht mehr zu wachsen und stattdessen zu trommeln und zu schreien. Sein Lebensweg führt durch das 20. Jahrhundert der Kriege, des nationalsozialistischen Wahns und des Wirtschaftswunders als große Ich-Erzählung eines „Zwerges“, der sich partout nicht aus dem Paradies seiner Kindheit vertreiben lassen will. Eigensinnig in der Gestalt eines Kleinkindes verharrend spielt Oskar Matzerath mit Polen, Kaschuben und Deutschen, Katholiken, Protestanten und Juden in der Stadt Danzig sein Spiel der Verweigerung gegen eine Welt der Lüge und der Gewalt.
Bebras Rat „immer auf der Tribüne zu sitzen …niemals vor der Tribüne zu stehen … und wenn nicht auf der Tribüne, dann unter der Tribüne“ wurde von Oskar mehr als beherzigt. Günter Grass lässt ihn nach dem Ende des 2. Weltkrieges als „Medienmogul überleben“ und im Ruhrgebiet des Wirtschaftswunderlandes West Erfolge und Geld scheffeln. Als eine Art Vorgriff auf unsere heutige Mediengesellschaft führt Grass seinen Oskar im dritten Buch des Romans scheinbar unmittelbar in unsere Gegenwart.
Jan Bosse bekennt sich in der Uraufführungsinszenierung der freien Bearbeitung von Armin Petras konsequent zu dem Prinzip der Epik. Seine sieben Schauspieler gleichen sieben Geschichtenerzählern, die sich gegenseitig herausfordern, um uns ihre Version des Romans zu erzählen. Der Gedanke die Figur des Oskars von unterschiedlichen Schauspielern spielen zu lassen, ist der Verweis auf die Vielfältigkeit der Geschichte und ihrer Interpretationsmöglichkeiten.
Die Jubiläumsausgabe der „Blechtrommel“, die 2009 im Steidl Verlag erschienen ist, zeigt in einer Grafik von Günter Grass einen Trupp schreiender Oskarfiguren. Sie laufen mit ihren Blechtrommeln direkt auf uns zu. Bei näherem Hinsehen wird klar, dass es sich eigentlich nur um fünf Oskars handelt. Sie stehen für die fünf Jahrzehnte des Romans und doch scheint es, als ob eine große Masse von Oskars unterwegs ist. Sie alle sind Kinder und sie bestehen auf ihr Kindsein und auf ihren Eigensinn.
Es spielen: Britta Hammelstein (Oskar/Maria Matzerath), Cristin König (Oskar/Agnes Matzerath), Anne Müller (Oskar/Roswitha Raguna), Ruth Reinecke (Oskar/Anna Bronski), Robert Kuchenbuch (Oskar/Koljaiczek/Bebra), Ronald Kukulies (Oskar/Alfred Matzerath/Löbsack/Kobyella), Hans Löw (Oskar/Jan Bronski/Sigismund Markus)
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Foto/ Video: Volker Gerling, Dramaturgie: Andrea Koschwitz
Koproduktion mit der Ruhrtriennale
Premiere am 8. September 2010 in der Jahrhunderthalle Bochum (Ruhrtriennale)
Weitere Vorstellungen im Maxim Gorki Theater: 30.9. und 1., 24., 31.Oktober 2010