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Rendezvous mit dem Pizzaboten

Mainfranken Theater in Würzburg stellt mit „Schneewittchen – Breaking Out“ besonderes Tanzprojekt auf die Beine: Ballettdirektorin kombiniert im Handlungsballett klassischen Tanz und Breakdance

Copyright: Lioba Schöneck

 

Schneewittchen herzt und küsst den alten Vater liebevoll. Die böse Stiefmutter indes streckt angewidert die Hand nach dem Mann im Rollstuhl aus, verweigert einen Kuss auf die Wange und will nur eins: schön sein auf dem Laufsteg. Menschliche Wärme prallt in dem Crossover-Tanzprojekt „Schneewittchen – Breaking Out“ im Mainfranken Theater auf Schönheitswahn. Ballettdirektorin Anna Vita verpflanzt das weltbekannte Märchen in die Gegenwart und verteilt so manchen Seitenhieb auf Heidi Klums Fernsehformat „Germanys next Topmodel“. Das Publikum darf lachen und ein rasantes, ganz besonderes Bühnenspektakel erleben, denn: Zusammen mit Sebastian Schick, Trainer und Choreograf bei „Dance Encore“ in Würzburg, kombiniert Vita klassischen Tanz und Breakdance.

 

Anna Vita bewegt sich nahe an der bekannten Handlung, allerdings transportiert sie sie pfiffig in die Gegenwart. Schneewittchen flüchtet aus der Modelagentur „Shine“ der bösen Stiefmutter, streift durch die Großstadt, wird von Auftragskillern bedroht und landet schließlich in einer Studenten-WG. Die sieben Breakdance-Jungs liegen dem hübschen Mädchen mal zu Füßen, mal wirbeln sie in wilden Drehungen, Handständen und Überschlägen um Schneewittchen herum. Alles wäre gut ohne die Stiefmutter; die aber kommt nicht damit klar, nicht die Schönste im Land zu sein. Mal versucht sie die Stieftochter mit einem Putzwedel zu ermorden, dann steht sie als Kosmetikverkäuferin in Pink vor der WG-Tür. Und schließlich darf auch der verhängnisvolle, vergiftete Apfel nicht fehlen. Fehlt nur noch ein Prinz als Retter. Oder aber ein süßer Pizzabote…

 

Schon die witzige, actionreiche Handlung würde genügen, um auch jüngeres Publikum vom Tanztheater zu überzeugen. Mit der Kombination aus klassischem Tanz und Breakdance gelingt dies am Mainfranken Theater aber ganz grandios – zumal vergleichbare Crossover-Projekte auf deutschen Bühnen bis jetzt selten sind. Doch Anna Vita widerlegt mit ihrer Inszenierung jene Stimmen, die keine Berührungspunkte zwischen der Breakerszene und künstlerischem Bühnentanz sehen wollen. Beide Stile verlangen den Tänzern unglaubliche Körperbeherrschung, Präzision, Technik und Ausdauer ab. Die Liaison akrobatischer, cooler Breakdance-Elemente und strenger Ballett-Eleganz macht richtig viel Spaß.

 

Eine Herausforderung dürften die monatelangen Proben allerdings gewesen sein: Im Ballettensemble des Mainfranken Theaters hatte bis dato ein einziges Mitglied Erfahrung mit Breakdance. Und die gecasteten Hip-Hopper – allesamt übrigens aus der Region – standen zum ersten Mal überhaupt bei einem abendfüllenden Handlungsballett auf der Bühne, mussten klassische Hebefiguren und Ballettelemente lernen. Dass hier und da vielleicht noch ein letzter Schliff und mehr Synchronität möglich gewesen wäre, verzeiht das Publikum gern. Dafür finden die coolen Jungs Körpergleichgewicht, wo man`s nicht vermuten würde. Die für Breakdance typischen pantomimisch-roboterhaften Elemente bieten ganz neue Möglichkeiten für witziges Tanzschauspiel.

 

Die Musik kommt bei „Schneewittchen – Breaking Out“ von Band. Anders geht`s in dem Fall kaum, denn so crossover wie der Tanz ist auch die Musik. Die WG-Jungs wirbeln energiegeladen unter anderem zu Techno und Elektrosound. Die Schwiegermutter und ihre Lover tanzen klassisch, unter anderem zu Vivaldis „Vier Jahreszeiten“.

 

Camilla Matteucci als Schneewittchen macht beides, und ersetzt dafür im Laufe des Abends die Ballettschlappen durch knallgelbe Turnschuhe. Die Besetzung ist passend, Matteucci tanzt mal verzweifelt, mal frech. Sehr niedlich auch ihr moderner Pas de Deux mit Timothy Szczepkowski-Collins. Verliebt man sich in den Pizzaboten, kann`s durchaus passieren, dass der Magen beim Schmusen rumort… Mit der Stiefmutter setzt Caroline Matthiessen dem lockeren WG-Ambiente einen ausdrucksstarken Kontrast entgegen: Sie bewegt sich bewusst gestelzt, arrogant, herrisch und tanzt letztendlich von Pose zu Pose, wie es sich für ein echtes Model gehört.

 

Den Gegensatz arbeitet Sandra Dehler zudem in Kostümen und Bühnenbild heraus. Zum Teil bewegt sich das Ensemble im Ambiente einer sterilen, geradlinigen, in weiß und schwarz gehaltenen Modelagentur. Die Mädchen tragen Einheitskleidung – mal elegant, mal Badekostümchen. Optisch aus der Reihe tanzen darf keiner. Für manches Schmunzeln sorgen die Outfits der Stiefmutter-Lover. In bayerischen Lederhosen mit Hosenträgern auf nacktem Oberkörper könnten die Jungs auch bei den Chippendales auftreten. Ein Wasserfall plätschert mittig und dient der Stiefmutter zugleich als Spiegel. Dreht sich die Bühne, erscheint ein völlig anderes Szenario: Die heimelige WG befindet sich inmitten grüner Natur. Und die Breakdance-Jungs tragen coole Shirts und Jeans, lässig und bunt.

 

Das Publikum ist begeistert und belohnt die moderne Märchenversion mit viel Zwischenapplaus vor allem für die Breakdancer und stehenden Ovationen am Ende fürs gesamte Ensemble.

 

Künstlerische Gesamtleitung: Anna Vita

Choreografie: Anna Vitaund Sebastian Schick

Bühne und Kostüme: Sandra Dehler

Licht: Walter Wiedmaier

Dramaturgie: Christoph Blitt

Schneewittchen: Camilla Matteucci

Stiefmutter: Caroline Matthiessen

Junger Mann: Timothy Szczepkowski-Collins

Zwei Lover: Leonam Santos, Felipe Soares Cavalcante

Models: Cara Hopkins, Zoya Ionkina, Kirsten Renee Marsh, Ran Takahashi, Kaori Morito

Sieben Jungs: Davit Bassénz, Kevin Benning, Dominik Blenk, Sebastian Schick, Leonam Santos, Gianluca Sermattei, Ran Takahashi, Aleksey Zagorulko / Louis Buß, Ditto Winterstein

Vater: David Bassenz

 

Musik u.a. von Antonio Vivaldi (Die vier Jahreszeiten und andere) und Arvo Pärt (Sinfonie Nr. 4 Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte, Sinfonie Nr. 2 Silouans Song), Breakdance Instrumental – Ciappy DJ , Pablo & Savio Vurchio pres. The logical groove elemtns: I feel; DJ Pablo: Dreams, The world of Electronic Gate

 

Mit:

Kevin Benning, Dominik Blenk, Sebastian Schick, Ditto Winterstein, Louis Buß

 

Uraufführung 28.02.2015

Dauer: 110 Minuten (mit Pause); nächste Vorstellungen: 15.00 Uhr: 08.03.; 19.30 Uhr: 13.03./ 21.03./ 25.03./ 06.04./ 16.04./ 21.04./ 08.05./ 22.05./ 06.06./ 10.06./ 19.06./ 11.07./ 19.07.

 

 

 

 

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