Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen für palästinensische Künstler ist in den letzten Jahren neben dem arabischen Theater in Israel auch in den besetzten Gebieten des Westjordanlands eine interessante Theaterlandschaft entstanden. Die dortigen Theatermacher haben eigene Ansätze entwickelt, sowohl mit der alltäglichen politischen Krisensituation als auch mit den tiefer liegenden Konflikten und Brüchen der palästinensischen Gesellschaft künstlerisch umzugehen. Ihre Arbeiten der bewegen sich im Spannungsfeld der Ideologien, Kulturen und Religionen einer komplexen Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne. Die Texte der palästinensischen Autoren reflektieren die Erinnerung an die »nakba«, die palästinensische Katastrophe von 1948, das Leben zwischen Exil und Besatzung, den Umgang mit dem Tod in einem Umfeld permanenter Gewalt.
Das Berliner Publikum ist eingeladen, sich beim F.I.N.D.8 in szenischen Lesungen, Gastspielen, Filmen und Gesprächen mit der widerständigen Lebendigkeit der palästinensischen Theaterszene auseinanderzusetzen.
Programm
Donnerstag, 6. November 2008
19.30 Uhr »Die Wissenden« von Nina Ender (Berlin), Gewinnerin des 5. Stückewettbewerbs
Preisverleihung und szenische Lesung von Auszügen des Stückes
Eingerichtet von Jan-Christoph Gockel
Paula Schenk, geborene Schwenk, ist Französischlehrerin am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ihr Mann Michael macht neurologische Experimente, unter anderem mit dem mehrfach schwerstbehinderten Ralph, dem Bruder einer Schülerin. Durch eine zufällige Begegnung zwischen Ralph und Paula und einer unachtsamen Bemerkung beginnt das Leben der Lehrerin zu zerfallen. Die Spätabtreibung eines behinderten Babys lastet immer schwerer auf Paula, und während Michael neue wissenschaftliche Erfolge erringt und mit einer ihrer Lehrerkolleginnen schläft, trifft Paula auf ein Mädchen, das ihrem todkranken Vater Sterbehilfe leisten will…
Das Stück stellt die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens, wann ein Leben lebenswert ist und wann nicht. "Die Wissenden" erforscht den Wahnsinn der Welt und den Wahnsinn derer, die darin leben.
21 Uhr Film »Arnas Kinder« von Juliano Mer Khamis
Israel/Palästina/Niederlande 2003, 84 Minuten, Arabisch mit deutschen Untertiteln
Arna Mer Khamis wurde 1929 als Kind jüdischer Eltern in Palästina geboren. Mit einem Palästinenser verheiratet, engagierte sie sich vor allem nach Beginn der ersten Intifada für die Kinder des Flüchtlingslagers Jenin. Zusammen mit ihrem Sohn, dem Schauspieler Juliano Mer Khamis, leitete sie eine Theatergruppe, in der die Kinder auch psychologisch unterstützt wurden.
Juliano begleitete die Arbeit zwischen 1989 und 1996 mit der Kamera. Nach dem Tod seiner Mutter kehrt er 2003 ins Lager zurück, um herauszufinden, was mit Yousef, Aschraf und Ala, Theaterkindern von einst, in der brutalen Realität ihres Erwachsenwerdens passiert ist.
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Freitag, 7. November 2008
19.30 Uhr Szenische Lesung »Nein, er ist nicht tot« von Hussein Barghouti (Ramallah)
Deutsch von Youssef Hijazi
Eingerichtet von François Abou Salem (Jerusalem)
Ein Paket mit den Papieren von Salamehs Vater, der vor langer Zeit die Familie verließ, ist angekommen. Ist das der Beweis seines Todes oder doch ein Lebenszeichen? Ist er im Exil, als reicher Mann in Amerika, oder bereitet er seine Rückkehr als Erwecker vor? Eine improvisierte Trauerfeier wird zur Bühne für die verschiedensten Spekulationen über sein Schicksal, in denen der Gegensatz zwischen Traum und Resignation verschwimmt.
Hussein Barghouti wurde 1954 in einem Dorf bei Ramallah geboren. Er studierte Literatur in Ramallah, Budapest und Washington und dozierte an verschiedenen palästinensischen Universitäten. Der Autor zahlreicher Gedichte, Liedtexte und Theaterstücke starb 2002.
François Abou Salem, Sohn einer französischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, gründete 1977 das palästinensische Ensemble El-Hakawati (»der Geschichtenerzähler«). Der Regisseur, Schauspieler und Autor lebt und arbeitet in Jerusalem und Paris.
21 Uhr Gastspiel »Seuls« von Wajdi Mouawad (Toulouse)
Französisch mit deutschen Übertiteln
Regie und Spiel: Wajdi Mouawad
Der Student Harwan schreibt eine Doktorarbeit über das Theater Robert Lepages. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als den Großmeister zu treffen und reist ihm hinterher – vergeblich. Stattdessen geschieht ein Unglück, das Harwan in sein eigenes Unterbewusstsein entführt. Er befindet sich auf einer Reise in seine Kindheit, die er in einer anderen Welt erlebt hat, deren Bilder ausgelöscht wurden, deren Sprache vergessen scheint.
Wajdi Mouawad wurde 1968 im Libanon geboren und floh als Fünfzehnjähriger mit seinen Eltern nach Kanada. Heute lebt der Schriftsteller und Regisseur in Frankreich. In Deutschland wurde er mit seinem Stück »Verbrennungen« bekannt. Die Schaubühne präsentiert diese Spielzeit die deutschsprachige Erstaufführung seines Stücks »Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen« (Premiere am 24. Oktober 2008).
22.30 Uhr Szenische Lesung »Der ganz, ganz treue Soldat« von Ala Hlehel (Akko)
Deutsch von Günther Orth
Eingerichtet von Amir Nizar Zuabi (Tel Aviv)
Natürlich, meint der Kommandant, lohnt es sich, fürs Vaterland zu sterben. Was aber, wenn man wie der erst siebzehnjährige ganz, ganz treue Soldat noch über keine großen Erlebnisse, weder Familie noch Geliebte verfügt? In einer Kampfpause eskaliert die Situation. Hierarchie, Regeln und Moral sind bedeutungslos geworden, die Soldaten haben alle Hemmungen verloren
und zerfleischen sich gegenseitig.
Ala Hlehel, 1974 in Galiläa geboren, studierte Szenisches Schreiben, Massenkommunikation und Kunst in Tel Aviv und Haifa. Neben der Arbeit als Journalist, Radiomoderator und Übersetzer veröffentlichte er Kurzgeschichten, Theaterstücke und zwei Romane. Er lebt in Akko. Amir Nizar Zuabi wurde in Jerusalem geboren. Er studierte Schauspiel, arbeitete als Regisseur in Palästina und Europa und leitete Theater in Haifa und Ramallah. Heute inszeniert der 32-Jährige am Palestinian National Theatre in Ostjerusalem und
ist der künstlerische Leiter des unabhängigen Ensembles Shiber Hur (»Freier Zentimeter«), das in Galiläa ansässig ist. Er lebt
in Tel Aviv.
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Sonnabend, 8. November 2008
19 Uhr Gastspiel »Ein Gedächtnis für das Vergessen« nach Mahmoud Darwisch (Ramallah)
Arabisch mit deutschen Übertiteln
Mit François Abou Salem
In Zusammenarbeit mit Amer Khalil und Amir Nizar Zuabi
1982: Israelische Truppen greifen den Libanon an. Die palästinensische Widerstandsbewegung verteidigt ihr Hauptquartier in Beirut. Inmitten des Bombenhagels sitzt ein palästinensischer Dichter allein in seiner Wohnung und sucht verzweifelt nach Halt, während um ihn herum die Welt unterzugehen scheint. So sucht er Zuflucht in der gleichgültigen Stimme des Nachrichtensprechers, im kollektiven Schatz palästinensischer Träume und Erinnerungen, und vor allem im tröstlichen Duft frisch gebrühten Kaffees. Der von François Abou Salem für die Bühne adaptierte autobiographische Prosatext gehört noch zum unbekannteren Teil des umfangreichen Werks von Mahmoud Darwisch. Als Siebenjähriger erlebte Mahmoud Darwisch die Vertreibung von 1948. Heimlich kehrte seine Familie nach Galiläa zurück.
In Haifa arbeitete er als Redakteur politischer und kultureller Zeitschriften bevor er 1970 nach mehrmaliger Inhaftierung ins Exil ging. Als Kulturchef der PLO war er Mitverfasser der Proklamation des palästinensischen Staates, bevor aus Protest gegen das Oslo-Abkommen austrat. Erst 1995 durfte Darwisch nach Israel zurückkehren. Die Gedichte des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreisträgers (2003) gehören zu den meist gelesenen der arabischen Welt und haben das palästinensische Nationalgefühl stark geprägt. Er starb im August 2008 nach einer Herzoperation.
20.30 Uhr Gastspiel »In Spuckweite« von Taher Najib (Haifa)
Arabisch mit deutschen Übertiteln
Mit Khalifa Natour
Regie: Ofira Henig (Jerusalem)
Zwischen Ramallah, Paris und Tel Aviv entfaltet sich der Monolog eines Schauspielers, den die Reise zu neuen Spielorten zum Grenzgänger macht. Als Palästinenser mit israelischem Pass wird die Konfrontation mit dem Flughafenpersonal zum Ansatzpunkt für die Frage nach Heimat, Fremde und der eigenen Positionierung. Zwei Jahre schrieb Taher Najib an dieser zwischen
Poesie und beißender Satire wechselnden autobiographischen Reiseerzählung, bis er sie im Rahmen des Autorenstipendiums des Royal Court Theatre in London fertig stellen konnte. Es wurde unter anderem auf dem Theatronetto Festival in Tel Aviv und bei Romaeuropa gezeigt.
Der aus einem Dorf bei Haifa stammende Taher Najib arbeitete als Schauspieler in Ramallah, bis er nach Ausbruch der zweiten Intifada nach Paris übersiedelte. Für ein Theaterprojekt Ofira Henigs kehrte er nach Israel zurück. Heute lebt der Schauspieler, Regisseur und Autor wieder in seinem Heimatort. Ofira Henig arbeitet seit 1989 als Regisseurin. Sie unterrichte an der Hochschule für visuelles Theater in Jerusalem und an der Universität Tel Aviv. Nach der künstlerischen Leitung des Khan Theaters in Jerusalem ist sie heute künstlerische Leiterin des Herzliyya New Ensembles. Ihre eigenen Theaterprojekte beschäftigen sich mit politischen Themen und den Möglichkeiten multikultureller Zusammenarbeit.
21.30 Uhr Szenische Lesung »Die Geschichte des Dorfes Kufur Schamma«
von Jackie Lubeck und François Abou Salem (Jerusalem)
Deutsch von Dorothea Herlyn
Eingerichtet von Mikael Serre (Paris)
Stolz kehrt Walid, der Bruder des Dorfvorstehers, 1948 nach dem Studium im fernen Kairo nach Palästina zurück. Er freut er sich auf einen herzlichen Empfang durch seine Dorfgemeinschaft, und vor allem auf das Wiedersehen mit seiner Verlobten Samiyya. Stattdessen findet er das Dorf zerstört vor, nur der Dorftrottel Ka’wasch ist noch anzutreffen. Walid weigert sich, den Verlust der Heimat anzuerkennen, und macht sich auf die verbissene Suche nach den vertriebenen Bewohnern.
Jackie Luebeck, geboren 1952 in New York, lebt seit Anfang der 70er Jahre in Jerusalem. Als Mitbegründerin der Theatergruppe El-Hakawati spielte sie in all deren Stücken, bevor sie begann, sie auch zu schreiben. Sie ist außerdem Ko-Direktorin und Autorin für das in Palästina ansässige Ensemble Theatre Day Productions, gegründet 1990, das Theaterproduktionen im
Gazastreifen und der West Bank realisiert. Mikael Serre, geboren 1973 in Nîmes, studierte Kunst, Schauspiel und Regie in St. Etienne, Paris und Salzburg und inszenierte zeitgenossische Stücke auf Bühnen in ganz Europa.
0 Uhr Kurzperformance »Die Löwen von Ramallah« von Wafa Hourani (Ramallah)
Eingerichtet von Wafa Hourani
Das Denkmal im Zentrum Ramallahs wurde der palästinensischen Autonomiebehörde zu deren Einsetzung geschenkt. Die Armbanduhr an der Tatze eines der drei Löwen war eigentlich ein Scherz des Künstlers im Entwurf, der aber prompt ausgeführt wurde. In der Performance des Visual Artist Wafa Hourani können die Statuen angesichts der 2. Intifada nicht länger
still bleiben. Gegenseitig erzählen sich die Löwen ihre Lebensgeschichten. Einem wurde in die Wange geschossen und er kann sich noch ganz genau an den Attentäter erinnern. Der andere wird immer dünner, da ihn die Stadtverwaltung ständig abschleifen muss, weil immer wieder Plakate von Märtyrern auf ihn geklebt werden. Ein Löwe ist Vater geworden und nach
Kanada ausgewandert, um seine Löwenbabies vor der täglichen Gewalt zu schützen. Nun denken auch die anderen über die Möglichkeit des Exils nach…
Wafa Hourani, geboren 1979 in Hebron, ist Absolvent der Hochschule für Kunst und Film in Tunis. Seine Werke, in der sich
Elemente aus Film, Foto und Architektur vermischen, bezeichnet er als »Photolife«. Seine Installation »Qalandia 2047«, eine
Vision des zukünftigen Flüchtlingslagers, wurde auf der Thessaloniki Biennale ausgestellt. Er lebt und arbeitet in Ramallah
und London.
12 Uhr STREITRAUM »Im Bannkreis des Verbotenen – von den Tabus in Palästina«
Moderation: Carolin Emcke
Wer über das Leben in den Palästinenser-Gebieten spricht, stößt an Grenzen. Nicht die äußeren Grenzen des Sperrwallsund der Checkpoints, sondern auch der inneren Grenzen des Denkens und Sprechens. Unsicherheit und Zweifel über moralischeund politische Intuition bestimmen viele Gespräche, selbst unter Freunden. Angst, ins falsche Licht gesetzt zu werden, missverstanden zu werden, als zu angepasst oder zu radikal zu gelten. Welche Themen sind mit einem unausgesprochenen Bann des Verbotenen belegt? Nicht nur als Themen des Nahost-Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern, sondern
auch zwischen Palästinensern selbst? Welche Fragen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft selbst bleiben unberührt?
15 Uhr Szenische Lesung »Extrem« von Peter Asmussen (Kopenhagen)
Deutsch von Angelika Gundlach
Eingerichtet von Christoph Sommerfeldt (Berlin)
Ein Mann, der von seiner Geliebten verlassen wurde und mit dem Gedanken an Selbstmord spielt, ein Mann der sich um seine alternde Mutter kümmert und vom Hass auf sie zerfressen wird, ein Mann der seine Frau und Kinder umgebracht hat, ein Mann der als Geisel gefangen ist… Neun Männer und ein Junge erzählen offen und ehrlich aus ihrem Leben. Alle befinden sich in psychologischen und emotionalen Ausnahmezuständen; in Extremsituationen, die sie und ihr Leben für immer verändern werden. Das Stück basiert auf dokumentarischem Material.
Peter Asmussen, geboren 1957, gehört zu den meistgespielten Dramatikern Dänemarks. Neben Prosa und Theaterstücken verfasste er Drehbücher für Radio, Fernsehen und Film unter anderem für Lars von Trier und Simon Staho. Er lebt in Kopenhagen. Christoph Sommerfeldt, geboren 1983, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig bevor er sein Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin aufnahm, das er nächstes Jahr abschließen wird.
17 Uhr Szenische Lesung »In einem Augenblick« von Peter Asmussen (Kopenhagen)
Deutsch von Angelika Gundlach
Eingerichtet von Thomas Bading (Berlin)
Camilla erzählt Weihnachten allen von der Affäre ihrer Mutter und zersprengt die Familie. Sarahs Zwillinge werden tot geboren. Tammi betrügt ihren Mann und entdeckt, dass sie Brustkrebs hat. Fünf Frauen erzählen von dem Augenblick, in dem sich alles verwandelte und von dem Leben danach. Das Stück basiert auf dokumentarischem Material.
Peter Asmussen, geboren 1957, gehört zu den meistgespielten Dramatikern Dänemarks. Neben Prosa und Theaterstücken verfasste er Drehbücher für Radio, Fernsehen und Film unter anderem für Lars von Trier und Simon Staho. Er lebt in Kopenhagen. Thomas Bading wurde 1959 in Berlin geboren. Er studierte Schauspiel in Leipzig und spielte unter anderem am Theater Halle
und am Deutschen Theater Berlin. Seit 1999 ist er im Ensemble der Schaubühne. Er inszenierte unter anderem am Neuen Theater Halle.
19 Uhr Szenische Lesung »Regretters« von Marcus Lindeen (Stockholm)
Deutsch von Jana Hallberg
Mikael und Orlando wurden als Männer geboren, aber haben sich zu Frauen umoperieren lassen: in der Hoffnung, dass das Leben in einem anderen Körper glücklicher ist. Jetzt merken sie, dass die Geschlechtsumwandlung der größte Fehler ihres Lebens war und träumen davon, wieder Männer zu sein. Ein Tribut an zwei Menschen, die es gewagt haben, sich selbst zu
verändern und nicht aufgeben, als sie merken, dass das neue Leben nicht so gut ist, wie sie gedacht hatten. Das Stück basiert auf Tonaufnahmen von einem realen Treffen zwischen zwei schwedischen Männern.
Marcus Lindeen, geboren 1980, ist als Radio- und Fernsehmoderator, Journalist und Regisseur tätig. Er lebt in Stockholm.
Schaubühne am Lehniner Platz
Kurfürstendamm 153
10709 Berlin
www.schaubuehne.de