Wer wandert aus? Warum und wohin? Diese Fragen treiben den Churer Autor Andri Perl seit langem um. Und dies nicht erst, seit er für eine Kampagne von Amnesty International eine Notunterkunft für abgewiesene Asylbewerber in Uster besuchte. Jahrhundertelang zog es Scharen von Europäern nach Übersee, in den Süden, in den fernen Osten. Im Zuge der Globalisierung hat sich der Wind gedreht. «Heute erfahren viele klassische Auswanderungsländer das Dilemma, selber plötzlich Ziel von Einwanderern zu sein», sagt Perl. Eben dieses Spannungsfeld zwischen Migrationsdruck und Bewegungsfreiheit bildet den Ausgangspunkt für das erste Theaterstück des Autors.
Verstossen der eine – hinausgeschickt der andere
In «Notlösung» abstrahiert Perl den Flüchtlingsstrom. Der Ozean wird zum unbestimmten Raum. Ein Boot, zwei Männer, eine vierschrötige Kapitänin. Die Reise ins Ungewisse unternehmen die beiden männlichen Protagonisten aus ganz unterschiedlichen Gründen: Da ist Klein, ein Aufrührer, den seine Dorfgemeinschaft aus ihrer Mitte verbannt hat; ein in die Fremde Vertriebener. Als dessen Widerpart tritt Battaglia auf, ein Söldner, den das Dorf als Hoffnungsträger ausschickt; in fernen Kriegen soll er sich verdingen und mit dem Lohn das Dorf unterstützen. Klein und Battaglia sitzen im selben Boot, ein unfreiwilliges Schicksalsbündnis mit enormem Konfliktpotenzial.
Dem Schaupielerensemble aus Söldner, Verbanntem und Autoritätspersonen stellt Perl einen Chor gegenüber. Dieser verkörpert einerseits die Gemeinschaft, die nach strengen Regeln über Wohl und Weh ihrer Mitglieder entscheidet. Ausschluss im einen Fall, Entsendung im anderen. In poetisch überhöhten Momenten wird der Chor zum Meer der Stimmen, zum kollektiven Gedächtnis, zum Orakel.
Zwischen Warten, Hoffen und Bangen
Die «Notlösung» ist nicht nur Perls Debüt als Dramatiker, sondern auch die erste Produktion, die die junge Bündner Regisseurin Selina Gasser am Theater Chur realisiert. Gasser war von Anfang an massgeblich an der Entwicklung des Stoffes beteiligt. Entstanden ist ein Stück, in dem sich politische und poetische Dimensionen gegenseitig durchdringen. Die fiktionale Welt, in der sich Klein und Battaglia begegnen, biete emotionalen Sprengstoff, sagt Gassser. Gleichzeitig entfalte sich das Spiel oftmals in langsamen, ruhigen Szenen. Flucht oder Aufbruch: Auswanderung habe viel mit Warten zu tun – Warten auf den richtigen Augenblick der Abreise, Warten auf die Helfer, Warten auf ein wichtiges Dokument, eine Bewilligung, einen Passierschein.
Vieles bleibt in der «Notlösung» absichtlich offen, Zeit und Ort changieren. So erinnert die Ratsversammlung, die Klein verbannt und Battaglia ausschickt, durchaus bewusst an ein eidgenössisch-parlamentarisches Gremium. Und das Auffanglager, in dem sich die beiden Antipoden schliesslich wiederfinden, könnte überall liegen: diesseits oder jenseits europäischer Grenzen.
Ozeanischer Sprechgesang
Für die Churer Produktion haben Gasser und Perl drei weitere Bündner Kulturschaffende mit ins Boot geholt: den Komponisten Duri Collenberg, den bildenden Künstler Gianin Conrad und Mattias Müller-Arpagaus als Chorleiter. Collenbergs elektronisch generierte Musik bildet einerseits die Klangkulisse zum Geschehen auf der Bühne, andererseits wird sie zum dramaturgisch wichtigen Element, etwa wenn der Chorgesang einsetzt. Mal steigen die Chorlieder wie Erinnerungsfetzen auf, dann wieder
kommentiert das Sängerensemble (bei dem übrigens auch Autor Perl mitwirkt) die dramatischen Ereignisse. Wenn Klein und Battaglia schwimmend das rettende Ufer zu erreichen versuchen, intoniert der Chor einen requiemhaften, ozeanischen Sprechgesang.
Mit: Suly Röthlisberger, Manule Kühne, Nikolaus Schmid,
Chor: Laura Decurtins, Romy Haueter, Simona Koller, Vreni Caprez, Tina Casura, Ursina Perl, Christoph
Battaglia, Carlo Köhl, Cristian Collenberg, Christian Foppa, Andri Perl
Regie: Selina Gasser
Komposition: Duri Collenberg
Dramaturgische Mitarbeit: Erik Altorfer
Ausstattung: Gianin Conrad
Chorleitung: Mattias Müller-Arpagaus
Produktion: Verein Pergament
Koproduktion: Theater Chur
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CHURER PODIUM
Sa 5. April 2014 18 Uhr
AN EUROPAS GRENZE
Journalist Kaspar Surber über Migration heute
mit Flurina Graf (Ethnologin/ikg)
CHURER PODIUM
So 6. April 2014 15 Uhr
SÖLDNER FÜR EUROPA
Journalist Jost Auf der Maur über historische Migration
Moderation: Karin Fuchs (Historikerin/ikg)
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