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URAUFFÜHRUNG: ZARATHUSTRA - NIETZSCHE IN CHUR - Theater Chur

Sa 14. / Sa 21. Juni 2014 14 Uhr So 15. / So 22. Juni 2014 10.30 Uhr. Eine Stadtführung von und mit Churer Ensemble & 400asa. -----

An zwei Wochenenden im Juni geht das auf mehrere Jahre angelegte Zarathustra- Projekt des Churer Ensembles und der Gruppe 400asa in die nächste Runde: Geboten wird eine theatral inszenierte Führung durch Chur, und zwar an Orte, die derdeutsche Philosoph einst besucht hat – oder besucht haben könnte.

 

Ausgehend vom Theater Chur wird das Publikum am 14./15. sowie am 21./22. Juni 2014 von den Schauspielern Nikolaus Schmid und Charlotte Engelbert an geheimnisvolle Orte in und um die Stadt geführt.

 

Der 29. September 1872 ist ein geschichtsträchtiges Datum. An jenem Tag, einem Sonntag, fand auf der Wollishofer Allmend in Zürich das erste Pferderennen in der Schweiz statt – heute würde man sagen: ein echter Event. Von den dahingaloppierenden, geschundenen Gäulen mit ihren bebenden Nüstern und dem Schaum vor den Mäulern ahnte Friedrich Nietzsche freilich nichts, obwohl er nach heutigen Massstäben gleich um die Ecke weilte. Der deutsche Philosoph hatte in einem Hotel am Walensee genächtigt und bestieg just an diesem Morgen den Zug nach Chur. Es sollten noch gut 16 Jahre vergehen, bis ein anderer geschundener Gaul die Schicksalswende im Leben Nietzsches auslöste: ein gepeinigtes Kutschpferd in Turin, auf das der Philosoph unter lautem Wehklagen zueilte, um es auf offener Strasse zu umarmen. Für die Biografen markierte dieser seltsame Vorfall den Ausbruch der geistigen Umnachtung Nietzsches.

 

An jenem Sonntag im Herbst 1872 hockte der Denker noch geistig intakt, aber mit lästigen Kopfschmerzen, im Eisenbahnabteil zweiter Klasse und liess die Landschaft mit ihrer «besonders reichen Aussicht» an sich vorüberziehen. In der Bündner Hauptstadt eingetroffen, fühlte sich Nietzsche so angeschlagen, dass er beschloss, im Hotel «Lukmanier» in Bahnhofsnähe ein Zimmer zu nehmen. «Drei Stunden habe ich geschlafen», notierte er in seinem gleichentags datierten Brief. Nach dem Schläfchen habe er sich besser gefühlt, habe gegessen und sei losgelaufen. «In der Stadt Chur ist Sonntagsruhe und Nachmittagsstimmung.»

 

Auf den Spuren des Philosophen

Einen Wochenendrundgang durch Chur ganz im Zeichen Nietzsches können sich Philosophie- und Theaterfreunde auch gut 140 Jahre später noch gönnen. Insgesamt viermal wird die theatrale Stadtführung an zwei Wochenenden im Juni durchgeführt. Sie ist Teil des ambitionierten Zarathustra-Projekts der Gruppe 400asa und des Churer Ensembles.

 

Bereits im letzten Sommer hatten sich Schauspieler, Philosophen, Literaturkenner und -kritiker auf Initiative der Regisseure Samuel Schwarz und Julian M. Grünthal von Zürich aus ins Engadin begeben, um dort auf Nietzsches Spuren zu wandeln. Zwischen Sils und See, wo der Philosoph 1883 im Laufe ausgedehnter Spaziergänge die Ideen zu seinem Buch «Also sprach Zarathustra» entwickelte, richtete die Truppe einen Nietzsche-Erlebnisweg ein. Und zwar mittels modernster Mobiltechnik.

 

Die GPS-unterstützte Führung mit Smartphone und entsprechender App führte die Zuschauer an eben jene Orte, wo Nietzsche einst seinen «Neuen Menschen» erspürte. Zugleich begegnete das Publikum dem Philosophen selber (in Gestalt des Schauspielers Philippe Graber) und den für ihn wesentlichen Frauenfiguren (gespielt von Meret Hottinger).

 

Eine Peitsche – für wen?

Weshalb Schwarz & Co. ihr Zarathustra-Projekt auf gleich mehrere Jahre ausgedehnt haben, ist schnell erklärt: Alle Aspekte dieses Themas in eine einzige Produktion zu zwängen, hätte Zuschauer und Macher schlicht überfordert. Die Rezeptionsgeschichte von Nietzsches Anti-Evangelium ist denn auch eine Geschichte voller Widersprüche, Sackgassen und Missverständnisse. Das wohl berühmteste Missverständnis entspringt einer Begegnung Zarathustras mit einem alten Weiblein, das ihm am Ende des Gesprächs eine kuriose Empfehlung mit auf den Weg gibt: «Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!» Generationen von Feministinnen ereiferten sich. Nietzsche: ein Frauenhasser. Was denn sonst? Spott, tieftrauriger Furor und Ironie, die Nietzsches Werke durchziehen, hätten zwar

hellhörig machen können – doch wer mit Schlagworten operieren will, findet sie überall. Auch die Nazis bedienten sich bekanntlich und erhoben die «blonde Bestie» und den «Übermenschen» zu Säulenheiligen in ihrem menschenverachtenden Weltbild.

 

Nietzsche: ein Vordenker des Faschismus. Was denn sonst?

Wie so oft liegen die Dinge aber anders, wenn man ihnen auf den Grund geht. Was Nietzsche, den Frauenhasser angeht, lässt eine historische Fotografie die Geschichte in ganz anderem Licht erscheinen. Die 1882 in einem Luzerner Atelier entstandene Aufnahme zeigt den Philosophen, die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé und tatsächlich eine Peitsche. Allerdings ist es Andreas-Salomé, die das Untensil auf einem Leiterwagen schwingt, vor dessen Deichsel Nietzsche angeschirrt steht. Als

Vorkämpfer faschistischer Ideen taugt der Denker ebensowenig. Als sich seine Schwester Elisabeth in den 1880er-Jahren dem ultranationalistischen und antisemitischen Gymnasiallehrer Bernhard Förster anschloss und ihn gar heiratete, empfand Nietzsche nur Abscheu und Ekel vor dessen abstrusen Ideen.

 

Stadtführung zwischen Realität und Fiktion

Nietzsches geschliffene Aphorismen, seine radikale Antibürgerlichkeit und die visionäre Aufbruchsstimmung, die seine Werke durchpulst, haben bis heute an Aktualität nichts verloren. Mehr noch: Wie das Zarathustra-Projekt zeigen will, ist Nietzsches Einfluss auf Zeitgeist und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts spürbarer denn je. Man findet ihn in der Popkultur wie zum Beispiel dem Dandytum, bei David Bowie, in der Punk-Bewegung, bei Patti Smith, aber auch in der Event-Kultur von Sport und Wirtschaft. Getreu dem Nietzsche-Wort «Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind» spielt der Churer Zarathustra-Spaziergang mit dem Gegensatz von Realität und Fiktion. Das Publikum wird wahlweise von den Schauspielern Nikolaus Schmid und Charlotte Engelbert an geheimnisvolle Orte in und um die Stadt geführt. Munter spaziert das Publikum durch Nietzsches Gedankenwelt, zuweilen irritiert und wie der Meister von der Migräne geschüttelt – denn der Föhn ist in Chur allgegenwärtig –, wähnt man sich plötzlich am Strand von Nizza, mitten in Rom oder an den Gestaden des Silser Sees.

 

Die gelesenen Texte stammen unter anderem von Nietzsches Brieffreundin Meta von Salis-Marschlins. Sie war nicht nur die erste Historikerin der Schweiz, sondern auch Verfasserin eines Erinnerungsbuches

über Nietzsche: «Philosoph und Edelmensch». Schliesslich wird das Publikum in die Realität zurückgeholt. Die Stadtführung endet in der WM-Arena auf dem Theaterplatz. Dort, wo während der Fussball-WM die Spiele aus Brasilien live übertragen werden, flimmern zu Ehren Zarathustras Bilder aus

Sils Maria über die WM-Leinwand – sozusagen als Begegnung zwischen philosophischem und sportlichem Übermenschen. Denn die Macher des Zarathustra-Projekts schliessen niemanden aus. Im Gegenteil, die Stadtführung sei «ein Spaziergang für Freund und Feind, für Seiltänzer, Fussballfanatiker und Hinterweltler», erklären 400asa und das Ensemble Chur. «Die Transhumanisten von Google sind ebenso Nietzscheaner wie die Weltenschöpfer der FIFA, die uns diesen Sommer wieder einlullen mit ihrem unentrinnbaren Gewalt-Narrativ.»

 

Ein Fläschchen Asti in Ehren

Der Philosoph selber ist an jenem 29. September 1872 nicht allzu lang durch Chur spaziert. Ein «besonders gefälliger und kluger Kellner» hatte ihm empfohlen, doch nach Passugg zu wandern. Und so liess Nietzsche die sonntäglich-beschauliche Bündner Hauptstadt kurzerhand hinter sich und stieg «ganz bequem die Landstrasse empor; herrlicher Rückblick, fortwährend sich erweiternde und wechselnde Umsicht». Er durchschritt die Rabiusaschlucht («kann ich nicht genug preisen») und genehmigte sich, in Passugg angekommen, drei Gläser Wasser aus den Sodaquellen des Bades

sowie eine Flasche weissen Asti. Am Eingang zum idyllischen Schanfigg – fernab des ersten Schweizer Pferderennens, lange vor der Niederschrift des «Zarathustra» und noch anderthalb Jahrzehnte vor der verhängnisvollen Umarmung in Turin.

 

«Zarathustra – Nietzsche in Chur»: Eine Stadtführung von und mit Churer Ensemble & 400asa

Samstag, 14. und Samstag, 21. Juni, 14 Uhr

Sonntag, 15. und Sonntag, 22. Juni, 10.30 Uhr

Online-Ticketing www.theaterchur.ch

 

Mit: Philippe Graber, Nikolaus Schmid, Charlotte Engelbert

Regie: Julian M. Grünthal

Produktion: Churer Ensemble & stadttheater.tv / 400asa

Koproduktion: Theater Chur

In Zusammenarbeit mit: BOBOK Theater, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur / Bachelorstudiengang Multimedia Produktion

Preise: CHF 25.– / 12.50 erm.

Start: Foyer Theater Chur (Eingang Theaterweg während Fussball-WM geöffnet)

Ende: Theaterplatz Chur

Dauer: ca. 90 Min.

 

Online-Ticketing www.theaterchur.ch

Kasse Theater Chur Mo bis Fr 17 – 19 Uhr, T +41 (0)81 252 66 44

sowie bei Chur Tourismus im Bahnhof Chur, T +41 (0)81 254 50 60

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