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"Das Ballhaus", Erinnerung an ein Jahrhundert

Kult-Inszenierung im Münchner Metropol-Theater

Münchens Theaterpublikum ist mobil und flexibel. Wo etwas Exquisites zu sehen ist, strömt es hin. In Freiman gibt es ein zum Theater ausgebautes altes Kino, das Metropol. Unter der frischen Direktion von Jochen Schölch steht es im Moment ganz oben auf der Leiter der Publikumsgunst. Was gegenwärtig gespielt wird, kann man fast schon eine Kult-Insznenierung nennen. Jedenfalls ist sie immer und auf lange hinaus ausverkauft, am Eingang stehen abends Menschen mit Schildern um den Hals "Suche dringend eine Karte".

Die glücklichen Besitzer eines Platzes werden nicht enttäuscht. Vielleicht erinnern sich einige Leserinnen und Leser an den französischen Film "Le Bal" nach einer Idee des "Théatre du Campagnol". Die Szene ist ein Ballraum, in dem Menschen zu ihrem Vergnügen miteinander tanzen. Getanzt wird fast ununterbrochen, aber in den rhythmischen Annäherungen, in den Aufmachungen und Verhaltensweisen, in den Geschehnissen auf der Tanzfläche und daneben, blättert sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts auf.

Es gibt eine deutsche Bühnenfassung von Rainer Mennicken, Nada Kokowic und Barbara Noth, aber letztlich hat noch jedes Theater seine eigene Schau aus dem Thema gewonnen.

So auch das Metropol-Theater in München. Regisseur Jochen Schölch leistete eine wunderbare Arbeit mit seinem Ensemble aus Schauspielern und Abschlussklasse-Studenten der Bayerischen Theaterakademie, deren Leiter er ebenfalls ist. Unterstützt wurde die Gruppe durch die ausgezeichnete Choreografie von Johanna Richter und Michael Schmieder.

Hervorragend die klug ausgewählte Musik-Collage, das Bühnenbild von Hannes Neumaier und vor allem auch die Kostüme von Andrea Fisser. Sie helfen den Spielern, augenblicklich den Geschmack der jeweiligen Zeit auferstehen zu lassen.

Denn aus der sympathischen Perspektive des Tanzvergnügens für kleine Leute wird fast das ganze vergangene Jahrhundert beleuchtet. Der erste Teil beginnt mit den Zwanziger-Jahren, in denen es mit festgefügten Benimm-Konventionen beginnt und mit tollen, schrägen Vergnügungen endet. Es geht weiter mit den Dreissigern, mit dem unseligen Erstarken der Nationalsozialisten und zwangsläufig mit den Schrecken des Kriegs. Der Tanzkeller wird zum Luftschutzraum für ängstliche, ausgehungerte Gestalten.

Der zweite Teil zeigt das Erstarken der Nachkriegs-Republik. Zuerst klammert man sich noch an die verklemmten Rituale des Wiederaufbaus, aber das Land wird immer wohlhabender, die Jugend immer sorgloser, das Tanzen ausgelassener, in den Sechzigerjahren entsteht ein Rausch der Freiheit und Rebellion. Und danach bleiben lauter selbstbewusste Menschen zurück, die freilich im Konsumrausch zunehmend verflachen und den intensiven Kontakt zueinander verlieren. Auch die Wende wird zum Schluss noch gestreift, die Frage nach der gemeinsamen Zukunft der Deutschen. Ende offen.

Der Abend artet nie in simples Schwofen aus, er ist in jeder Minute auch prallvoll von einzelnen Interaktionselementen, die sich wie beiläufig entfalten. Alles ohne Worte, gespielt und getanzt von einem wundervoll homogenen, 20-köpfigen Ensemble. Das Ganze ist auch hier ein Tanz auf dem Vulkan, denn die Gefahr der menschlichen Aggressivität bleibt immer präsent. Aber nie ohne Hoffnung, nie ohne einen liebevollen Blick auf die Menschen. Bravo

Premiere am 16. Januar 2003 im Metropol-Theater, Floriansmühlstraße 5, München

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