Zudem war Wiens Belagerung durch die Türken noch in frischer Erinnerung, was die Oper mit ihrem unvermittelt glücklichen Ausgang nach dem Motto „Es ist gerade noch einmal gut gegangen“ durchaus reflektiert. Dass Mozart und sein Librettist Gottlieb Stephanie d. J. solche Subtexte vorsätzlich ihrer Oper unterlegt haben, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Mozarts Intention war sicherlich, mit diesem Singspiel ein Zeichen zu setzen für das von Kaiser Joseph II. geforderte „deutsche Nationaltheater“ als Gegenpol zur damals vorherrschenden italienischen Oper und zugleich seinem Herrscher zu huldigen, der im Jahr zuvor sein Erstes Toleranzpatent verkündet hatte, mit dem im Deutschen Reich das Ende der Gegenreformation besiegelt wurde.
Das von Gottlieb Stephanie d. J. nach dem Schauspiel „Belmont und Constanze“ von Christoph Friedrich Bretzner verfasste Libretto stand noch ganz im Zeichen der damaligen Türkenmode. Doch für den Komponisten musste „schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter seyn“. Und so konzentriert sich trotz Janitscharen-Klängen und osmanischem Kolorit das (musikalische) Geschehen weniger auf die kulturellen Auseinandersetzungen zwischen West und Ost – schließlich entpuppt sich sogar der fremdländische Herrscher als Europäer nicht nur im Geiste, sondern auch von Geburt an. Vielmehr stehen die erotischen und emotionalen Irrungen und Wirrungen zwischen Belmonte, Konstanze und Bassa Selim auf der einen, und Pedrillo, Blonde und Osmin auf der anderen Seite im Zentrum der Handlung.
Da die Erstaufführung ursprünglich im Rahmen der Festlichkeiten eines Staatsbesuchs des russischen Zaren in Wien erfolgen sollte, liegt es nahe, im milden, verzeihenden Bassa Selim eine Allegorie auf den Herrscher zu vermuten. Zudem trug der Inhalt allein schon durch die Namensgleichheit der Figur der Konstanze mit seiner künftigen, gegen Widerstände errungenen Frau Parallelen zu Mozarts persönlicher Lebenssituation. Das pochende Herz des Liebhabers Belmonte, das die Musik mit der Genauigkeit eines Kardiogramms nachzeichnet, ist eben nichts anderes als des Komponisten eigener Herzschlag. Carl Maria von Weber, mit dem „Freischütz“ der Begründer der eigentlichen deutschen Nationaloper, analysierte das später so: „Ich glaube in dieser heiteren, in vollster Jugendkraft lodernden, jungfräulich zart empfindenden Schöpfung das zu erblicken, was jedem Menschen seine frohen Jünglingsjahre sind, deren Blütezeit er nie wieder so erringen kann und wo beim Vertilgen der Mängel auch unwiederbringliche Reize fliehen. Opern wie Figaro und Don Juan war die Welt berechtigt, mehrere von ihm zu erwarten. Eine Entführung konnte er mit dem besten Willen nicht wieder schreiben.“
Am 10. Juni feiert eine Neuproduktion von Mozarts 1782 im Wiener Burgtheater uraufgeführtem Singspiel auf der Aalto-BühnePremiere. Das holländische Produktionsteam mit Jetske Mijnssen (Regie), Sanne Danz (Bühne) und Arien de Vries (Kostüme) sowie Dirigent Christoph Poppen geben ihr Debüt am Essener Theater.
Jetske Mijnssen, die u. a. „Madama Butterfly“ in Basel und „Rusalka“ in Dortmund szenisch realisierte, versteht das Singspiel als „ein Lehrstück über die Liebe“. Ihre Inszenierung befreit das Mozartsche Opus von Rezeptionsklischees und lädt zu einer tief greifenden Neudeutung ein.
Musikalische Leitung Christoph Poppen
Inszenierung Jetske Mijnssen
Bühne Sanne Danz
Kostüme Arien de Vries
Choreinstudierung Alexander Eberle
Bassa Selim Maik Solbach
Konstanze Simona Saturova
Blonde Christina Clark
Belmonte Bernhard Berchtold
Pedrillo Albrecht Kludszuweit
Osmin Roman Astakhov
Essener Philharmoniker, Aalto-Opernchor, Chordirektor: Alexander Eberle
Weitere Vorstellungen 16., 19., 21., 24., 27.6.2012, Aalto-Theater