Wer sich die obige Frage noch einmal durch den Kopf gehen lassen will, hat dazu im Rahmen dieser Neuproduktion gleich doppelt Gelegenheit. Denn der Abend besteht aus zwei Balletten, und er durchläuft den Zyklus des Werdens und Vergehens, des Lebens und des Sterbens und der ewigen (Ver-)Wandlung auf zwei Wegen.
Zwar nehmen diese Wege ähnliche Verläufe, kreuzen sich sogar gelegentlich, führen jedoch ansonsten durch völlig unterschiedliches Gelände. Im ersten Teil ist es europäisches Terrain, auf dem sich der Tanz vollzieht: Das musikalische Fundament für diesen Teil bilden Antonio Vivaldis Violinkonzerte Die vier Jahreszeiten – 1725 komponiert –, die mit Abstand berühmtesten Kompositionen des venezianischen Meisters. Choreographiert werden die vier programmatisch konzipierten Violinkonzerte von der isländischen Choreographin Katrín Hall, die damit erstmals für das Ballett des Landestheaters Linz arbeitet. So konkret Vivaldis Werk die Naturerscheinungen der Jahreszeiten illustriert, so abstrakt geht Hall mit dieser (häufig vertanzten) Musik um und begreift sie als große Herausforderung. Im Zentrum ihres Ballettes stehen menschliche (Paar-)Beziehungen und deren Verhältnis zu Erinnerungen und zum Erschaffen solcher. Material für ihre von starken (Gruppen- und Kreis-) Formationen und dem Element der Wiederholung und des Selbstzitats geprägte Choreographie findet sie dabei auch bei den Tänzern selbst. Nie will sie allein Tänzer auf die Bühne stellen, immer sollen es vor allem die Menschen sein, die sichtbar werden.
Letzteres hat Katrín Hall – seit mittlerweile 15 Jahren Künstlerische Leiterin der Iceland Dance Company – freilich mit Jochen Ulrich gemeinsam, mit dem sie ein wichtiger Teil ihrer Karriere verbindet. Als junge Tänzerin verkörperte Hall in den frühen 1990er Jahren wichtige Rollen im Tanzforum Köln unter der Leitung Jochen Ulrichs und ist dem heutigen Ballettdirektor des Landestheaters Linz seitdem verbunden.
Der zweite Teil des Abends – dieser nun in der Choreographie von Jochen Ulrich und Fabrice Jucquois – dreht sich erneut, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen um den Wandel der Natur angesichts der Zeit: Ihm liegt mit Philip Glass’ Violinkonzert The American Four Seasons eine österreichische Erstaufführung zugrunde, die hier erstmals in Verbindung mit Tanz zu erleben ist. Wenn Vivaldis barockem Klassiker diese zeitgenössische amerikanische Version der Jahreszeiten gegenübergestellt wird, vollzieht sich in ihr der ineinander verschränkte Wechsel der Generationen und Kulturen auf spielerische Weise. Wie bei Vivaldi ist auch in Glass’ 2009 uraufgeführtem zweiten Violinkonzert die Zahl 4 von Bedeutung. Auch in Ulrichs Ballett sind es weniger Naturphänomene als menschliche Beziehungen, die im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Von Gruppen- und Paardynamik, vom Suchen, Finden und Verlieren erzählt dieses Ballett und macht sich dabei die musikalische Struktur zur maßgeblichen Herausforderung: Die vier Sätze des Konzertes werden angeführt und durchsetzt von fünf Solo-Stücken für Violine, die – so ihr Komponist Philip Glass – auch unabhängig vom Rest existieren könnten. Diese rätselhafte (vielleicht provokante?) Unabhängigkeit wird unterstrichen durch einen weiteren Choreographen, Fabrice Jucquois – als Tänzer Mitglied des Ensembles –, der sich dieser "Gegenwelt" annimmt und sie in Tanz übersetzt.
Die Thematik des Lebenskreislaufs, des Wechselspiels der Generationen und des Zusammenspiels von Natur und Mensch ist es, die beide Teile des Abends miteinander verbindet. Die visuelle Klammer des Abends hält dabei der Ausstatter Stephan Mannteuffel in Händen, der in Bühne und Kostümen das Element der Natur und ihrer Übergriffe auf vom Menschen Geschaffenes bildlich macht.
Den musikalischen Bogen zwischen europäischem Barock und amerikanischer Moderne zu schlagen, dies obliegt dem Musikalischen Leiter der Produktion Takeshi Moriuchi wie auch Borys Sitarski. Sie werden das Ballettensemble und die (alternierenden) Violinsolisten Heinz Haunold, Lui Chan, Tomasz Liebig und Mario Seriakov vom Pult des Bruckner Orchesters Linz aus durch diese choreographische Reise geleiten.
Musik von Antonio Vivaldi und Philip Glass
Leitungsteam
Musikalische Leitung Takeshi Moriuchi / Borys Sitarski
Choreographie und Inszenierung Katrín Hall, Fabrice Jucquois und
Jochen Ulrich
Bühnenbild und Kostüme Stephan Mannteuffel
Dramaturgie Julia Zirkler
Teil 1 – Antonio Vivaldi:
Die vier Jahreszeiten
Irene Bauer, Clara Pascual Martí,
Tine Schmidt, Anna Štěrbová;
Ziga Jereb, Wallace Jones, Daniel Morales Pérez, Alexander Novikov, Sakher Almonem/Morgan Reid
Teil 2 - Philip Glass:
The American Four Seasons
Irene Bauer, Darie Cardyn, Sarah Deltenre,
Clara Pascual Martí, Lucia Patoprstá,
Tine Schmidt, Anna Štěrbová;
Ziga Jereb, Wallace Jones, Daniel Morales
Pérez, Alexander Novikov, Alister
Noblet/Morgan Reid, Matej Pajgert
Solo-Violine
Heinz Haunold / Lui Chan / Tomasz Liebig / Mario Seriakov
Bruckner Orchester Linz
Montag, 05. März 2012
Freitag, 16. März 2012
Mittwoch, 28. März 2012