Niemand in Iphigénies Heimat Aulis ahnt, dass Agamemnons älteste Tochter noch am Leben ist, wie auch niemand ahnt, dass in all den Gräueltaten, die sich seither ereignet haben, noch immer der Tantalidenfluch fortwirkt. Iphigénies erfährt von zwei Gefangenen aus ihrer Heimat, dass ihr Bruder Orest ihre gemeinsame Mutter Klytämnestra umgebracht hat, um so deren Meuchelmord am Vater zu rächen. Dass die beiden Gefangenen in Wahrheit ihr Bruder Orest und dessen Freund Pylades sind, erkennt Iphigénie zunächst nicht. Doch sie ist entschlossen, zumindest einem von beiden die Freiheit zu schenken.
Mit „Iphigénie en Tauride" bringt das Staatstheater Kassel zum 300. Geburtstag von Christoph Willibald Gluck die wohl meisterlichste Reformoper des Komponisten auf die Bühne. Sein Anliegen, Drama und Musik gleichberechtigt zu verbinden und alle Mittel in den Dienst eines wahrhaftigen Ausdrucks zu stellen, hat Gluck in diesem Werk am eindrücklichsten verwirklicht.
So fern und archaisch das Geschehen auf Tauris zunächst anmutet, so nah und gegenwärtig ist das Thema Menschenopfer und Konfrontation mit dem Fremden in jüngster Zeit angesichts der ISIS-Kämpfer und grausamer Hinrichtungs-Videos. Für Regisseurin Reinhild Hoffmann heißt dies nicht etwa, die aktuelle Realität auf die Bühne bringen zu wollen, aber doch zu bedenken, dass das „Barbarische“ in der Natur des Menschen liegt. Iphigénies Ausbrechen aus dem ritualisierten Machtgefüge bildet daher für Reinhild Hoffmann auch den entscheidenden Moment: Indem die Königstochter sich weigert, weiter zu morden oder Rache zu üben, ebnet sie den Weg für ein neues Denken. Zeichenhaft, zeitlos und mit Mitteln des Tanzes bringt Reinhild Hoffmann das Werk auf die Bühne.
Reinhild Hoffmann gehört zur Pioniergeneration des deutschen Tanztheaters, 1978 übernahm sie die Leitung des Bremer Tanztheaters, und ihre Arbeit wurde mehrfach mit Auszeichnungen gewürdigt. Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit hat sich auf Regie im Musiktheater verlagert. In Kassel inszenierte sie zuletzt „Les Dialogues des Carmélites“ von Francis Poulenc.
Jörg Halubek ist Gründer und Künstlerischer Leiter des Stuttgarter Barockorchesters „Il Gusto Barocco“ sowie Universitätsprofessor für Historische Tasteninstrumente und Aufführungspraxis an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz und an der Staatlichen Hochschule für Musik Stuttgart. „Iphigénie en Tauride“ ist nach „Griselda“ von Scarlatti (2011/12), „L'Olimpiade“ von Vivaldi (2012/13) und Händels „Saul“ bereits die vierte Produktion in Kassel, deren musikalische Leitung er innehat.
Text: Nicolas-François Guillard
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung: Jörg Halubek,
Inszenierung und Bühne: Reinhild Hoffmann,
Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer,
Dramaturgie: Ursula Benzing,
Chor: Marco Zeiser Celesti
Mit: Hulkar Sabirova (Iphigénie), Hee Saup Yoon (Thoas), Hansung Yoo (Orest), Tobias Hächler / Bassem Alkhouri (Pylades), Ulrike Schneider (Oberpriesterin der Iphigénie u.a.), Anna Nesyba (Diane), Bernhard Modes (Ein Skythe), Micha Kuzma (Ein Tempeldiener), Jörg Weinöhl (Solo-Tänzer) sowie Annika Hoffmann, Susanna Horn, Hanna Lee, Deborah Smith-Wicke, Arthur Haas und Timo Uehlinger (Tänzerinnen und Tänzer, in Kooperation mit SOZO visions in motion)
Nächste Vorstellungen: 25.12., 3.1., 14.1., 20.1.