Die aus der Perspektive des Zeitgeistes moralische Anrüchigkeit des Sujets, Lulus radikale Natürlichkeit als Plädoyer für feminine Emanzipation und gegen bürgerliche [Schein-] Moral, brachte Wedekind in Schwierigkeiten mit der Zensurbehörde wie der Justiz und führte dazu, dass er das Stück in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten immer wieder überarbeitete, in der Hoffnung, dadurch einen Verleger zu finden und Aufführungen zu ermöglichen. Lulu handelt von dem gesellschaftlichen Auf- und Abstieg einer aufgrund ihrer außerordentlichen Schönheit im wahrsten Sinne des Wortes männermordenden jungen Frau in einer repressiven patriachalen Gesellschaft.
„Ich habe mir schon lange gewünscht, LULU zu vertanzen. Denn welche Kunstform ist besser geeignet, die Sinnlichkeit, von deren Verdrängung und der damit einher gehenden Deformation LULU handelt, auf der Bühne zu visualisieren. Dabei geht es mir im Übrigen nicht darum, Wedekind eins zu eins umzusetzen. Sie ist, wie das Libretto zu Alban Bergs gleichnamiger Oper, vielmehr die Grundlage für meine Auseinander-setzung mit diesem Sujet, mit extremen Frauenbildern. Was müssen junge Leute heute beispielsweise nicht alles tun, um für ihren Betrieb oder sogar für ihr Studium Geld zu erhalten. Wie Geld korrumpiert, wie Liebe tragisch endet, das alles kann man hier zeigen. Am Ende trifft Lulu auf ihren Engel und wird erlöst. Ist das nicht ein Wunsch, wenn man ein soziales Thema zu Ende bringen möchte?“
Im Ballett steht die 215. Spielzeit des Anhaltischen Theaters Dessau unter dem Motto „Sinn und Sinnlich-keit“. Der neue Ballettdirektor Tomasz Kajdanski wird mit seinem Ensemble in seiner ersten Spielzeit in Dessau Choreographien nach Schauspielvorlagen zur Uraufführung bringen. Mit „Lulu“ nach Frank Wedekind und „Nachtasyl“ nach Maxim Gorki stehen zwei große Schauspielklassiker der Moderne im Mittelpunkt seiner Arbeit.
Tomasz Kajdanski wird sich diesen beiden Stücken in seinem unverkennbaren Stil annehmen, der ihm bereits für sein Tanztheaterstück „Tschaikowsky“ eine Nominierung für den ersten deutschen Theaterpreis „Der Faust“ als einer der drei besten Choreografen Deutschlands eingebracht hat. Er hat zusammen mit dem musikalischen Leiter Daniel Carlberg sujetabhängig die passende Musik herausgesucht und auf ihr aufbauend das passende Bewegungsvokabular. Deshalb benutzt er beides, sowohl die klassische Balletttechnik und Form, als auch die zeitgenössische Geste, so dass der Darsteller als Mensch glaubwürdig ist für den Zuschauer und für die Musik. Dabei ist die klassische Technik die Basis, von der ausgehend er dann verschiedene Stile verfolgt.
Zu „Lulu“ sagt Tomasz Kajdanski: „Ein Ballett zu machen, das den Titel von Wedekinds Tragödie der verdrängten Sinnlichkeit trägt, ist natürlich eine Herausforderung, denn Ballett und Tanz sind ja per se eine Feier geradezu exzessiver sinnlicher Körperlichkeit durch dynamisch junge Menschen. Warum „Lulu“ als Ballett? Ich empfinde es gerade für dieses Sujet als einen Vorteil, dass wir keine Worte haben. Worte sind manipulierbar, das wissen wir aus der Geschichte. Die Körpersprache kann dagegen nicht lügen. Das Faszinierende am Tanz ist doch gerade, dass Körper sowohl die situationsspezifische Wahrheit als auch die mit ihr verbundenen Emotionen erzählen können. Deshalb bin ich überzeugt, dass Lulu heute ein richtiges Thema für uns ist.“
Im weiteren Verlauf der Spielzeit, bietet Kajdanski mit dem Projekt „Hermes in der Stadt“ Ensemblemitgliedern des Dessauer Balletts ein Forum für eigene choreografische Werke als Koproduktion zwischen dem Anhaltischen Theater und dem Dessauer Bauhaus. Der Aufführungsort ist die Bauhausbühne, die vor allem unter der Leitung von Oskar Schlemmer ein legendäres Projekt der Theatermoderne, ein Ort für revolutionäre Experimente mit Körper und Raum war.
Kajdanski meint dazu: „Gibt es einen besseren Ort, sich mit der Klassik, der Moderne, der klassischen Moderne auseinanderzusetzen als Dessau?“
Lulu
Tanztheater-Uraufführung von Tomasz Kajdanski nach Frank Wedekind
Choreografie: Tomasz Kajdanski
Musikalische Leitung: Daniel Carlberg
Bühne und Kostüme: Dorin Gal
Dramaturgie: Heribert Germeshausen
Weitere Vorstellungen:
25.10.09, 17.00 Uhr | 07.11.09, 19.30 Uhr | 13.11.09, 19.30 Uhr | 28.11.09, 19.30 Uhr | 22.12.09, 19.30 Uhr | 30.01.10, 17.00 Uhr | 05.02.10, 19.30 Uhr | 21.03.10, 17.00 Uhr | 10.04.10, 19.30 Uhr | 14.05.10, 19.00 Uhr