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"Medea" des Euripides im Landestheater Linz

Premiere am 17. Oktober 2008 in den Kammerspielen.

 

Aus Liebe zu Jason, dem Anführer der Argonauten, hatte Medea, die Königstochter aus Kolchis am Schwarzen Meer, einst ihren Vater verraten und ihren Bruder getötet.

 

Nur mit ihrer Hilfe gelang es Jason, das Goldene Vlies zu erobern. Sie fliehen mit der Argo, dem schnellsten Schiff der damaligen Welt, zurück nach Griechenland. Nach der Ermordung von Jasons wortbrüchigem Onkel Pelias muss das inzwischen vermählte Paar auch seine Heimatstadt Jolkos verlassen. Erst in Korinth gewährt ihnen König Kreon Asyl. Hier bringt Medea zwei Söhne zur Welt. Doch die Ehe der Ausländerin, der „Barbarin“, mit Jason, dem griechischen Prinzen, wird nicht anerkannt. Jason verstößt Medea, um Kreons Tochter zu heiraten.

 

In dieser verzweifelten, für Medea scheinbar aussichtslosen Situation setzt das Drama des Euripides an. König Kreon droht nun Medea aus Angst vor ihrer Rache Verbannung an. Nur einen einzigen Tag Aufschub kann sie erbitten. Dem selbstgerechten Iason, der versucht, seine Untreue als Akt der Fürsorge darzustellen, täuscht sie Versöhnung vor und macht ihn so zum Werkzeug ihres Racheplans. Sie bringt Kreon und seine Tochter um, indem sie ihnen durch ihre Söhne ein vergiftete Kleid als Hochzeitsgeschenk überbringen lässt. Nicht genug, im Mord an den gemeinsamen Kindern sieht sie die einzige Möglichkeit, die Verbindung zu Jason zu symbolisch zu löschen und ihn selber zu vernichten. In einem der berühmtesten Monologe der griechischen Tragödie, durchzogen vom Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft, nimmt ihr Plan Gestalt an.

 

Dass Medea ihre eigenen Kinder ermordet, ist eine Erfindung und Zuspitzung des Euripides, im bis dahin überlieferten Mythos tötet sie nur den König und seine Tochter. Die Zuschauer der Uraufführungsinszenierung im Jahr 431 v. Chr. wussten also nicht, was passieren würde, als Medea sich von ihren Kindern verabschiedet. Eine solche Szene hatte es bis dahin auf der attischen Bühne nicht gegeben. Medea, die Enkelin des Sonnengottes Helios, hält sich nicht an den überkommenen Mythos, kein vorgegebenes Schicksal bestimmt ihren Weg. Sie entscheidet frei und bestimmt ihr Handeln selbst. Während Euripides Vorgänger Aischylos noch Geschichte in heroischen Mythos verwandelt hat, macht sein jüngerer Nachfolger nun aus Heroen Menschen. In der Medea, wie Euripides sie zeigt, schimmert immer auch das Denken und Fühlen einer Frau im Athen des Jahres 431 v. Chr. durch. Und dieses Athen war eine Männerwelt, erst als Väter, dann als Gatten haben sie die Vormundschaft über die Frauen. Das Bürgerrecht galt nur für Männer, deren Eltern beide Athener waren. Auch die Beziehung von Perikles, dem prägenden Politiker der Epoche, zu einer Fremden wurde nicht anerkannt. Medea ist als Frau und „Barbarin“ also die doppelte Außenseiterin. Euripides, der jüngste der drei großen attischen Tragiker neben Aischylos und Sophokles, Zeitgenosse des Sokrates und schon deutlicher geprägt von den Krisen der Republik nach den Peloponnesischen Kriegen, hat den Mythos so verwandelt, das er ihm eine neue Wahrheit geben konnte.

 

Die in ihrer Liebe wie in ihrer Rache bedingungslose Medea, mal kühl reflektierend, dann voller Leidenschaft, aber in vollem Bewußtsein ihre eigenen Kinder mordend, ist eine der verstörendsten und faszinierendsten Figuren der griechischen Antike zugleich. In einer verzweifelten Situation verweigert sie sich radikal der ihr zugedachten Rolle und handelt mit erstaunlicher Kraft und Entschlossenheit, dabei jedoch blind für die ethischen Konsequenzen ihrer Tat. Die Ambivalenz der Medea-Figur des Euripidesdramas inspiriert und provoziert von Ovid über Corneille, Grillparzer, Christa Wolf oder Heiner Müller bis heute zu Um-, Neu- und Überschreibungen. Wie der Ödipus-Mythos wurde aus Medea so ein Urtext unserer Zivilisation, die Konflikte, die in ihn eingeschrieben sind, berühren die Basis unseres Selbstverständnisses. Das Mord und Liebe sich so verquicken können, bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind, bleibt irritierend.

 

Zu ihrer Doppelbödigkeit aus mythischer Figur und Zeitgenossin des Euripides kommt als dritte Ebene immer die der Fragen, die sie uns heute stellt, dazu. Erst indem sie alle moralischen Normen sprengt, kann Medea frei handeln und sich behaupten. Doch in ihrer unerbittlichen, gewaltsamen Reaktion auf ihre Ausgrenzung bestätigt sie gerade das Gegenbild der Fremden. Jenseits von Gut und Böse kann sie nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden und wird so selber zum Opfer ihrer Rache. Sich im Besitz einer Verfügungsmacht über Leben, Tod und Körper der eigenen Kinder glaubend, wiederholt sie nur die patriarchalen Muster, gegen die sie sich wehrt. Wie frei sind Medeas Entscheidungen wirklich?

 

Isabel Osthues wird erstmals am Landestheater Linz inszenieren. Geboren 1966, Studium der Germanistik und Philosophie in Hamburg, Regieassistentin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (vor allem bei Christoph Marthaler) und am Staatstheater Stuttgart, arbeitet sie seit 1997 als freie Regisseurin. Inszenierungen u.a. in Hamburg, Stuttgart, Zürich, Magdeburg, Mannheim, Dresden, Bremen, Bochum, Oldenburg. Zuletzt hat sie am Staatstheater Stuttgart „Woyzeck“ inszeniert.

 

Mit Eva-Maria Aichner, Katharina Hofmann; Thomas Bammer, Johann Schiefer, Guido Wachter, Markus Westphal u.a.

 

 

 

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