Just in dem Moment der Sorglosigkeit holt die Vergangenheit Nora in Gestalt des windigen Advokaten Krogstad ein. Dieser weiß um die Urkundenfälschung Noras, mit der sie sich das Geld erschwindelt hatte, um ihrem Mann eine teure medizinische Behandlung zu finanzieren. Die rettete ihm zwar das Leben, erfahren durfte er davon aber nichts – er hätte Noras Manipulation niemals geduldet. Krogstad will sich über Nora bei Helmer eine gehobene Position in der Bank sichern, seine Erpressung treibt Nora in eine scheinbar ausweglose Situation. Unter dem Druck offenbart sich die Brüchigkeit der Helmer-Ehe. Im entscheidenden Moment steht Helmer nicht hinter seiner Frau, sondern wird einzig von seiner Angst um sein Ansehen und seine Karriere beherrscht. Noras Welt entpuppt sich als Puppenstube, sie selbst als ein wertvolles Spielzeug ihres Mannes, das schnell fallengelassen werden kann. Torvalds Vorstellung von einer Frau als Besitz und seine kleinbürgerlichen Abstiegsängste öffnen Nora die Augen über ihr fremdbestimmtes Leben und führen zu einer außergewöhnlichen Entscheidung.
Von einer scheinbar glücklichen Haus-, Ehefrau und Mutter zu einer alle familiären und ehelichen Bindungen hinter sich lassenden Frau; von einem Dasein als Besitz und Aushängeschild ihres Mannes bis zum Aufbruch in eine unsichere, aber selbstbestimmte Existenz. Nora durchläuft in wenigen, peinvollen Tagen einen Erkenntnisprozess, an dessen Ende sich ihre bisherige Lebenswelt als Scheinwelt, ihre Ehe mit Torvald als Zweckbeziehung bar jeder Gleichberechtigung offenbart.
Der Dramaturgie des Stückes folgend fokussiert Tilo Nest Inszenierung zunehmend auf Noras Innenwelt, auf den Horrortrip ihrer Gedankenwelt. Den Stationen ansteigender Verzweiflung Noras entsprechend durchläuft die Inszenierung verschiedenen Räume und Spielweisen. Im weiträumigen Foyerbereich des Schauspielhauses findet der erste Akt statt, in dem noch die vorgeblich heile Welt der Helmers realistisch zum Ausdruck kommt. Im zweiten Akt konzentriert sich die Handlung mit den häufiger werdenden Einblicken in Noras Innenwelt der Konflikte und Ängste auf die Bühne des Kleinen Schauspielhauses; und dort kommt es mit dem dritten Akt nochmals zu einer räumlichen Verdichtung – gemäß der Ausweglosigkeit, in die Nora sich unerbittlich gedrängt sieht und aus der sie nur ein Befreiungsschlag führen kann.
Die Verdinglichung und der Warencharakter aller menschlichen Beziehungen wird heute als die größte
Bedrohung für Liebe und Eros angesehen. Es ist der große Verdienst Ibsens, das mit seiner Nora bereits vor 130 Jahren vorausgeahnt und auf psychologisch so tiefgründige Weise analysiert zu haben.
Inszenierung: Tilo Nest
Bühne und Kostüme: Bernhard Siegl
Dramaturgie: Sven Kleine
Mit: Heisam Abbas, Hanno Friedrich, Juliane Pempelfort, Lutz Wessel, Julia Wolff
Die nächsten Vorstellungen sind am 10., 20., 23. und 28. Februar im Kleinen Schauspielhaus.