Als er trotz dieser göttlichen Warnung mit seiner Frau Iokaste einen Sohn zeugt, veranlasst Laios, das Neugeborene in der Wildnis auszusetzen und ihm die Füße durchbohren und binden zu lassen. Durch die Wunden, die der Knabe davonträgt, bekommt er seinen Namen: Oedipus – Schwellfuß. Doch der Versuch, den Sohn zu beseitigen, schlägt fehl und Oedipus wächst am Königshof von Korinth auf. Als er in Delphi vom Orakel erfährt, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten werde, kehrt Oedipus nicht zu seinen vermeintlichen Eltern nach Korinth zurück, sondern wendet sich in die entgegengesetzte Richtung. Unterwegs tötet er bei einer Ausein-andersetzung unwissentlich seinen leiblichen Vater und gelangt nach Theben, in seine ursprüngliche Heimatstadt, deren Bewohner von einer Sphinx bedroht werden. Nur die Lösung eines von ihr aufgegebenen Rätsels kann die Stadt retten. Nachdem es Oedipus gelungen ist, das Rätsel zu lösen, stürzt sich die Sphinx zu Tode. Theben ist befreit, aber auch der Orakelspruch erfüllt sich: als die Thebaner vom Tod ihres Königs Laios erfahren, tragen sie Oedipus, der ihre Stadt kraft seines Verstandes von der Sphinx befreit hat, die Königswürde und die Hand der Königin Iokaste, seiner leiblichen Mutter, an. Er heiratet seine Mutter nachdem er seinen Vater getötet hat.
Sophokles Tragöde „König Oedipus“ (ca. 434/ 432 v. Chr.) setzt an dem Punkt ein, an dem Theben erneut von Unheil, diesmal einer furchtbar wütenden Pest, heimgesucht wird. Oedipus veranlasst daraufhin die Befragung des Orakels in Delphi und erfährt, das der Grund für die Heimsuchung der ungesühnte Mord an dem früheren König Laios ist. Oedipus eröffnet sofort die Suche nach dessen Mörder und findet schließlich – sich selbst! Das Erkennen der eigenen Herkunft und das Aufdecken des Mordes münden schließlich in einer schrecklichen Wahrheit. So unerträglich ist Oedipus diese grausame Wahrheit über sein eigenes Geschick, dass er sich selbst das Augenlicht raubt: „Was halfen die Augen, nur Grauen gab es zu sehen“ und schließlich als blinder Bettler, geführt von seiner Tochter Antigone in der Verbannung sein Dasein fristet.
In „Oedipus auf Kolonos“ (401 v. Chr.), der zweiten Oedipus-Tragödie des Sophokles erreicht Oedipus nach Jahren des Umherirrens in der Fremde endlich das ihm, vom Gott Apollon, verheißene Ziel: Den geheiligten Ort der „furchtbaren Frauen“, der Erinnyen – Rachegöttinnen – vor den Toren Athens. Doch kaum dort angelangt versuchen Kreon, der Bruder der Iokaste und Nachfolger des Oedipus auf Thebens Thron, sowie Oedipus Sohn Polyneikes, ihn für ihre machtpolitischen Zwecke einzuspannen. Mit Hilfe von Theseus, dem König Athens, gelingt es jedoch die Pläne der beiden zu vereiteln und Oedipus geht in den von ihm herbeigesehnten und ihm von der Gottheit vorbestimmten Tod. Die gefürchteten Erinnyen nehmen Oedipus an ihrem heiligen Ort in ihrer wohlmeinenden Gestalt als Eumeniden – die Freundlichen – auf. So schließt sich mit dem Ende des „Oedipus auf Kolonos“ der Lebenskreis des Oedipus.
Der König und Tyrann des ersten Teils, der in Selbstüberhebung glaubt, die göttlichen Gesetze außer Kraft setzen zu können, und damit tief in das Elend der Selbsterkenntnis stürzt, begegnet an seinem Lebensende einer gütigen Gottheit und geht versöhnt in den Tod. Die eigene Begrenztheit im ersten Teil der Tragödie noch leugnend erkennt Oedipus im Folgenden genau diese Grenzen des eigenen Daseins an und erfährt seinen Tod nicht mehr als hartes Schicksal, sondern als eine von den Göttern gewährte Gunst. Eine Gunst, die ihn auf eine andere Weise als im ersten Teil vor den Menschen auszeichnet. Denn am Schluss ist Oedipus in der Lage, und zwar nur er, der entstellte Bettler, der Gottheit entgegenzugehen. In der Figur des Oedipus spiegelt sich die grundsätzliche Problematik der Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit. An seiner Person zeigt der antike Tragiker Sophokles exemplarisch dessen Weg zur Wahrheit und damit zur (Selbst-)Erkenntnis auf, und liefert damit zugleich eine dramatisch-philosophische Analyse der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt.
Wolfram Mehring arbeitet international als Regisseur und Autor. Er ist Begründer des experimentellen Theaterzentrums “Théâtre de la Mandragore“ in Paris. Parallel zur Arbeit mit der eigenen Truppe in Paris ist Mehring in vielen Ländern Schwarzafrikas, der arabischen Welt, Ostasiens, in Indien und Amerika als Regisseur und Theaterpädagoge tätig. So ist er seit vielen Jahren auf den Bühnen unterschiedlichster Kulturen zu Hause. Dabei findet er zu Ausdrucksmöglichkeiten, die westliche, fernöstliche, indische und afrikanische Theatertraditionen verbinden.
Besonders bei seiner Arbeit in dem, von ihm gegründeten, „Centre international de Recherches Théâtrales Scéniques“ erarbeitete Mehring Theaterformen, welche die Körpersprache des Schauspielers ins Zentrum rücken.
Für Münster schuf er 2005 mit seiner „Schneekönigin“ – Bearbeitung nach dem gleichnamigen Märchen von H. Ch. Andersen – ein poetisches Abenteuer in magischen Bildern. 2006 inszenierte Wolfram Mehring „La Traviata“ von Giuseppe Verdi an der Koreanischen Nationaloper in Seoul und brachte eine eigene Bearbeitung des „Urfaust“ am Theater Konstanz heraus: „Faust-Frühe Fassung“ nach Johann Wolfgang von Goethe.
Regie: Wolfram Mehring
Bühne: Jochen Diederichs
Kostüme: Maja Scholl-Lemcke
Dramaturgie: Christina Lahmann
Mitwirkende:
Regine Andratschke (Iokaste), Carolin Wirth (Antigone/ Dienerin), Peter Cieslinski (Priester), Philip Gregor Grüneberg (Teiresias/ Koloner), Ilja Harjes (Polyneikes/ Bote), Markus Kopf (Theseus/ Hirte), Francisco Medina (Oedipus), Johann Schibli (Kreon), Jan-Sturmius Becker (Musiker), Statisterie und Jugendclub der Städtischen Bühnen Münster (Chor)
Weitere Vorstellungen im Mai:
Donnerstag, 24. Mai, 19.30 Uhr
Samstag, 26. Mai, 19.30 Uhr
Sonntag, 27. Mai, 17.00 Uhr