"Medea":
In dem aus der antiken Argonautensage abgeleiteten Flüchtlingsdrama
über die Kolcherfürstin Medea und ihr tragischer Schicksal sieht sie die
Kolonialgeschichte unserer unmittelbaren Gegenwart gespiegelt, die sich in der
Wirklichkeit der Grenzen unseres Gelobten Landes Europa, an den spanischen Küsten, in den Festungen von Marokko und Ceuta, in den Auffanglagern etwa der italienischen Insel Lampedusa, abbildet.
Dem Flüchtling ist nach einem Wort Alfred Polgars „die Heimat Fremde geworden, aber die
Fremde nicht Heimat“. Die Kolcherin Medea hat diese Erfahrung gleich zweimal machen müssen: Aus Liebe zu Jason hat sie zuhause Vater und Bruder verraten und ist mit ihm (und dem geraubten goldenen Vlies) in seine Heimat Jolkos geflohen. Von dort wurden Jason und Medea, die man des Königsmords bezichtigt, verbannt und mit ihren beiden Söhnen von König Kreon in
Korinth aufgenommen. Auch an dem neuen Exilort findet Medea, der die Griechen als einer „barbarischen“ Zauberin rätselhafte Hexenkünste zuschreiben, keine Ruhe. Kreon, der Machthaber über Gedeih und Verderb der Schutzsuchenden, setzt alles daran, das Ehepaar zu trennen und Jason mit seiner Tochter Kreusa zu vermählen. Um Medea loszuwerden, entzieht er ihr kurzerhand den Boden unter den Füßen: das Asylrecht.
Verlockt von dem Frauentausch und der Aufnahme in die so neue Wohlstandswunderwelt, stimmt Jason nur zu eilfertig der Abschiebung Medeas zu: „Nun will ich wieder Mensch unter Menschen sein“, lautet seine Losung. Medea soll das Feld räumen und außer Landes gebracht werden, aber ihre Kinder und vor allem das goldene Vlies, dieses Unterpfand materieller
Besitzgier, soll sie zurücklassen. Medea, als Frau verspottet, „die die Wildnis ausgespien“ (Kreon), als Ehepartner gedemütigt, als Mutter ohnmächtig und als Flüchtling rechtlos gemacht, sieht sich aller Würde als Mensch beraubt und wie ein Tier in die Enge getrieben. Isoliert und um jeden Lebenssinn betrogen, lässt sie die Gewalt eskalieren – gegen ihre Kinder wie gegen sich selbst.
Grillparzers Drama einer Enteignung des Selbst, die „Geschichte einer Seele im Kampf um ihr eigenes Bestehen“ (Heinz Politzer) enthüllt mit seinem Kesseltreiben einer zivilisiert scheinenden Gesellschaft gegen die um Asyl bittende Fremde Medea vor allem die barbarisch rohen Untergründe unserer eigenen sozialen Welt.
"Ostmark":
„Das Schlagwort ‚Schwarzarbeiter aus dem Osten’ ist nur die erste Schicht, eine
Oberflächenbedeutung, sagen wir – die ‚Handlung’. In Wirklichkeit geht es um mehr, um dieewige Angst vor dem ‚Fremden’, vor dem ‚Barbaren’, dem ‚Nomaden’, die Angst vor dem‚Anderen’. Die Angst vor dem Osten, das bedeutet heute auch schon die Angst vor China und seiner Expansion. Im Grunde sind es Ängste vor der künftigen Gestalt der Welt, nicht nur vor
dem Arbeiter aus Polen oder der Ukraine.
Ein geheimnisvolles Dorf – in Österreich? In der Steiermark? Jedenfalls eine geschlossene Gesellschaft. Dort kommt ein ‚Ostarbeiter’ bei der Arbeit ums Leben. Eine Leiche, die illegal ist, weil der Typ schwarz gearbeitet hat. Und die Einheimischen beraten nun, was sie mit der Leiche anfangen sollen. Vielleicht kommen sie auf die Idee, ihn im Ofen zu verbrennen, damit keine Spuren bleiben ...? Und dann macht sich zum Beispiel die Familie dieses Verstorbenen aus dem Osten auf die Reise, weil sie in ihrer Idiotie hofft, die ‚großartige neue Welt’ zu finden ... dabei findet sie nicht mal mehr die Leiche ...“
Aus einem Brief von Andrzej Stasiuk an Anna Badora.
„Tzap-Tzarap“:
Tzap-Tzarap heißt Klauen und entstammt der Sprache der Verbrecher des römischen Imperiums. Heute wird der Begriff in Italien weitläufiger benutzt und bezeichnet vor allem einreisende Rumänen. Thema dieses Stücks ist das Klauen, der Betrug und das Wiederholen in Form eines Gegenbetrugs. Erzählt wird das kurze Glück nach dem Klauen, das sich nicht halten lässt, weil der Besitz auch immer wieder die Gefahr des Verlusts in sich trägt.
Nicoleta Esinencu, geboren 1978 in Moldawien, studierte Szenisches Schreiben an der Moldawischen Kunstakademie und nahm in dieser Zeit u.a. an Workshops von Biljana Srbljanovic und Matéï Visniec teil. 2003 erhielt sie ein Stipendium an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Ihre Stücke „Fuck you, Eu.ro.Pa!“ und „Zuckerfrei“ wurden auch ins Deutsche übersetzt. „Fuck you, Eu.ro.Pa!“ ist in Rumänien, Frankreich, Moldawien, Russland und Deutschland inszeniert worden.