Um diese Frage zu beantworten, ist vor allem eines nötig: sich die Ursprünge von Bizets Oper bewusst zu machen. Denn hinter der oft nur noch kulinarisch rezipierten Hitmaschine verbirgt sich eines der ersten Werke der Operngeschichte, die reale soziale Missstände ins Visier nahmen. Regisseur Andreas Wiedermann folgt Bizet und zeigt die Überlebensstrategien von Menschen an der gesellschaftlichen Peripherie auf: Security-Personal, Prostituierte und Fabrikarbeiterinnen. Gesellschaftlicher Aufstieg ist unter diesen Bedingungen undenkbar. Der Kampf ums Überleben prägt alle Figuren. Dennoch ist die Suche nach dem Glück der Herzschlag und Kammerton des Stücks. Eben deshalb ist Carmen aber auch die „Chronik eines angekündigten Mordes“, eine Schicksalsspirale, in der allein der Traum von einer besseren Welt bestehende Verhältnisse für Momente erträglich macht.
Spielort und Unterstützer für die musikalisch-szenische Versuchsanordnung ist das ehemalige Heizkraftwerk Mixed Munich Arts, dessen Industriecharakter wie für Carmen gemacht ist. Auf mehreren Spielebenen entsteht ein Fabrikszenario, das die seelische Brutalität, der die Charaktere dieser Oper unterworfen werden, in groß dimensionierte Bilder und Situationen packt. Diese Carmen lebt in der Nähe einer südamerikanischen Metropole, aus der Zigarettenfabrik wird eine der zahllosen illegalen Nähereien Südamerikas, in denen Menschen unter immer noch sklavenartigen Bedingungen Kleidung für die westlichen Märkte produzieren.
Im Carmen-Ensemble spielen und singen Asylsuchende und geflüchtete Künstler Seite an Seite mit professionellen Opernsängerinnen und -sängern. Die eigentlichen Opernpartien übernehmen Cornelia Lanz (Carmen), Anton Klotzner (Don José), Julia Bachmann (Micaëla), Torsten Petsch
(Escamillo), Anne Sorbara (Frasquita) und Judith Beifuß (Mercédès). In weiteren Sprech- und Gesangsrollen: die beiden Schwestern Walaa und Wisam Kanaieh (Syrien) als Carmens Freundinnen Manuelita und Maria, Ahmad Shakib Pouya (Afghanistan) als Zuniga, Rami Alrojoleh (Syrien) als Schankwirt Lillas Pastia und Omar Almasalmah (Syrien) als Begleiter Micaëlas. Eine besonders schöne Konstellation hat sich bei den Chören ergeben: Nicht nur treten der Chor Opera Incognita und der Flüchtlingschor Zuflucht gemeinsam auf. Der in Bizets Oper vorgesehene Kinderchor besteht aus 20 Flüchtlingskindern unter der Leitung von Beatrix Jakubicka-Frühwald.
Musikalisch und textlich präsentiert sich diese Carmen in ganz eigener Façon. Die Spielfassung orientiert sich an der Erzählung von Prosper Merimée und nutzt Bizets Version mit gesprochenen Passagen, von denen einige für diese Aufführung in zeitgenössischer Musiksprache neu komponiert und dem Club-Charakter des Spielorts angepasst werden. Harte Technobeats werden ebenso zu hören sein wie Bizets Originalkomposition.
Die Mitwirkenden
Musikalische Leitung: Ernst Bartmann
Regie: Andreas Wiedermann
Produktionsleitung Zuflucht Kultur: Cornelia Lanz
Produktionsleitung Opera Incognita: Ernst Bartmann, Andreas Wiedermann
Carmen: Cornelia Lanz
Don José: Anton Klotzner
Micaëla: Julia Bachmann
Escamillo: Torsten Petsch
Frasquita: Anne Sorbara
Mercédès: Judith Beifuß
Manuelita: Walaa Kanaieh
Maria: Wisam Kanaieh
Remendado: Romain Pascal
Moralès: Simon Riegel
Zuniga: Ahmad Shakib Pouya
Lillas Pastia: Rami Alrojoleh
Begleiter Micaëlas: Omar Almasalmah
Flüchtlingschor Zuflucht
Chorleitung: Cornelia Lanz
Afghanistan: Jamshid A., Ali M., Mostafa Sayed
Irak: Ayden Antanyos, Sarmad Fouad
Iran: Fahimeh Baghnavi
Syrien: Khaled Alhussein, Majed Alkadri, Wassim Alkardoush, Omar Almasalmah, Rabee Alnader, Rami Alrojoleh, Samer Alsaed
Chor Opera Incognita
Flüchtlingskinderchor Viel Harmonie
mit: Ayesha, Faheza, Faith, Fatima, Giti, Iman, Marwa, Mashid, Salman, Sameerah, Sara, Setayash, Sheyllah, Somaya, Suhajb
Chorleitung Kinderchor: Beatrix Jakubicka-Frühwald
Choreinstudierung Kinderchor: Beatrix Jakubicka-Frühwald, Cornelia Lanz
Über Zuflucht Kultur e.V.
Così fan tutte (Oktober 2014), ZAIDE.EINE FLUCHT. (August 2015) und zuletzt Idomeneo im Juli 2016: Mit beinahe unheimlichem Timing halten die drei Opernproduktionen von Zuflucht Kultur e.V. der Entwicklung der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa den Spiegel vor. Die Vorbereitungen für das vierte große Projekt laufen auf Hochtouren: Bizets Carmen hat am 2. September 2017 im MMA (Mixed Munich Arts) in München Premiere.
Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, mit und durch Kultur Brücken zwischen Geflüchteten und der einheimischen Bevölkerung zu bauen. Er arbeitet zuallererst künstlerisch, organisiert mittlerweile aber auch eine Vielzahl von politisch-sozialen Auftritten eines eigens gegründeten Projektchors. Anfang September 2015, kurz nach Öffnung der deutschen Grenzen für in Südosteuropa festsitzende Flüchtlinge, gastierte der Chor Zuflucht beim Bürgerfest des Bundespräsidenten auf Schloss Bellevue; außerdem war er im ZDF bei Markus Lanz und Johannes B. Kerner zu erleben. In diesen bewegten Zeiten erreichten und erreichen die Macher laufend weitere Einladungen von Institutionen, die sich für Menschenrechte einsetzen: Unter anderem stand der Chor beim europäischen Konsultationstreffen des World Humanitarian Summit der Vereinten Nationen und bei der Eröffnung der Generalversammlung der International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies auf der Bühne, beides in Genf. Mit Auftritten wie diesen gelingt es dem Verein Zuflucht Kultur und seinem Chor so auch auf internationaler Ebene, das viel diskutierte Thema Flüchtlinge mit einem starken, hoffnungsvollen Projekt zu verbinden. Der bislang schönste Erfolg der Arbeit von Zuflucht Kultur: Das ZDF-Format Die Anstalt erhielt für die Sendung mit dem syrischen Flüchtlingschor Zuflucht den Grimmepreis 2015 „für den Moment der Echtheit und Wichtigkeit“. Eben diese Ausgabe wurde noch ein zweites Mal geehrt. Die deutsche Sektion von Amnesty International zeichnete sie mit dem Marler Medienpreis für Menschenrechte 2015 aus. Vor kurzem wurde der Verein auch direkt ausgezeichnet – mit dem Förderpreis der Pill Mayer Stiftung für interkulturellen Dialog 2016.
Mehr Informationen: www.zufluchtkultur.de
Über Opera Incognita
Ziel und Leitidee von Opera Incognita ist es, außergewöhnliche Opern einem etablierten und einem jungen Publikum zugänglich zu machen. Die szenisch wie musikalisch herausfordernden Werke erschienen anfangs in chronologischer Ordnung. Die Reihe begann 2005 mit Armide von Christoph Willibald Gluck (1714-1787) und setzte sich 2006 mit Axur von Salieri (1750-1825) fort. Unter den weiteren Produktionen: Die Perser von Aischylos, Jean-Philippe Rameaus Dardanus, Antonio Vivaldis Andromeda Liberata und Robert Schumanns Genoveva.
Das Besondere an den Inszenierungen ist die enge Zusammenarbeit des musikalischen Leiters und des Regisseurs. Beide sind bei den Proben anwesend und studieren die Stücke gemeinsam ein. Was an größeren Häusern nicht möglich wäre, führt zu einer echten Symbiose zwischen Musik und Inszenierung. Für die noch recht jungen, unbekannten Akteure – meist Absolventen von Musikhochschulen – haben sich die anspruchsvollen Produktionen von Opera Incognita schon häufig als Sprungbrett für die weitere Karriere erwiesen. Die Kompanie scheint zudem ein echtes Händchen für die Wahl der Aufführungsorte zu haben und stellt damit immer wieder unter Beweis: Gute Opern wirken überall – auch und vielleicht sogar stärker an ungewöhnlichen Spielstäten.
Mehr Informationen: www.opera-incognita.de
Für das neue Projekt hat Zuflucht Kultur in den Kollegen von Opera Incognita gleichgestimmte Mitstreiter gefunden. Seit zwölf Jahren führt diese Kompanie unbekannte Opern an außergewöhnlichen, häufig theaterfremden Orten in München auf – darunter Glucks Armide in der Reaktorhalle, Salieris Axur in der Allerheiligen-Hofkirche oder Benjamin Brittens The Turn of the Screw im Müller'schen Volksbad. Das atmosphärische Heizkraftwerk MMA in der Maxvorstadt ist wie geschaffen für eine Carmen, die das Team zu ihren sozialkritischen Ursprüngen zurückführen will: eine nackte Fabrikhalle als Setting für die Geschichte einer Arbeiterin, deren Gier nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben in unauflöslichem Widerspruch steht zu ihrer Existenz als „Nähsklavin“. Ein multinationales, vielsprachiges Ensemble sucht nach einer zeitgemäßen Deutung des Mythos' Carmen und übersetzt archaische Emotionen und gesellschaftliche Analyse in sinnliche Hörbilder. Die Titelrolle singt Zuflucht Kultur-Gründerin Cornelia Lanz. Die musikalische Leitung hat Ernst Bartmann inne; Regie führt Andreas Wiedermann – beide Opera Incognita.
Weitere Aufführungen: Mittwoch, 6. September / Freitag, 8. September / Samstag, 9. September / Sonntag, 10. September / Mittwoch, 13. September / Freitag, 15. September / Samstag, 16. September – jeweils um 19:30 Uhr
Vor allen Aufführungen laden die Beteiligten ab 19:00 Uhr zu einer Open Stage mit zusätzlichen Beiträgen der geflüchteten Künstler/innen ein.
Kartenvorverkauf bei München Ticket: www.muenchenticket.de, Tel. 089-54818181