Diese von tiefer Todessehnsucht und melancholischer Schönheit geschwängerte Grundstimmung findet sich auch in Georges Rodenbachs Roman Bruges-la-morte (1892) wieder, der Mei Hong Lin für ihre erste Tanzpremiere am Landestheater Linz literarische Inspirationsquelle war.
Ein in seiner Trauer verharrender Witwer siedelt sich im leblosen Brügge an. Dort führt er, umgeben von Relikten seiner verstorbenen Frau, ein erstarrtes und von der Vergangenheit zehrendes Leben. Durch eine hoffnungslose Liebesbeziehung zu einer jungen Tänzerin, die seiner verstorbenen Frau ähnlich
sieht, steigert er sich zunehmend in einen Wahn der totalen Analogie. Doch als sich das illusorische Konstrukt als Gefängnis aus sittenstrenger Entsagung und wilder Leidenschaft entpuppt, führt ihn die Katastrophe erneut zur völligen Gleichheit von einst und jetzt.
Fernand Khnopff, Mon coeurpleurepour le passé, 1889
Mit der Hauptfigur des Hugo Viane erschuf Georges Rodenbach einen Archetypus der Dekadenz, der die Geisteshaltung und ein beliebtes Sujet der Kunst des Fin de Siècle in Reinform verkörpert. Die atmosphärische Welt der melancholischen Stadt Brügge, in der Rodenbach seinen Antihelden sich ganz seiner Trauer und Schwermut hingeben lässt, sowie die existenzielle Schwere und Ausweglosigkeit seines Gemütszustandes sind bezeichnend für dieses Werk.
Dekadenz ist nur einer von zahlreichen konkurrierenden Epochenbegriffen für das Ende des 19. Jahrhunderts. Georges Rodenbach hat diese Strömung um eine eigene flämische Variante ergänzt, für die ein Lokalpatriotismus in symbolistischer Prägung charakteristisch ist: Glockenklänge, still dahingleitende Nonnen, Schwäne auf grauen Kanälen, ständiger Regen und Nebel formen eine mit allen Sinnen wahrnehmbare Topographie, in der die Grenzen zwischen der inneren und der äußeren Welt mehr und mehr ineinander übergehen.
Das Wesentliche an Schwanengesang ist nicht die Handlung vom trauernden Witwer, der eine illusorische und zum Scheitern verurteilte Beziehung mit einer Tänzerin eingeht; die eigentliche Tragödie handelt von der seelischen Zerrissenheit eines Menschen, die sich bis in den Wahn steigert – ein Wahn, der sich in den verschiedensten Sinneseindrücken widerspiegelt, nicht zuletzt in Hugos Annahme, die Schwäne singen zu hören. Mei Hong Lin spürt dem Seelenbild eines Menschen nach, der zwar dem Leben entsagt, den seine Leidenschaften aber nicht aus dem Leben entlassen wollen.
Fernand Khnopff, Le masque au rideaunoir, 1909
MEI HONG LIN
Mei Hong Lin wurde in Taiwan geboren und erhielt eine Ausbildung in klassischem chinesischem Tanz in ihrer Heimat. Anschließend studierte sie an der Accademia Nazionale di Danza in Rom sowie an der Folkwanghochschule in Essen bei Pina Bausch. Diese unterschiedlichen stilistischen Wurzeln finden Niederschlag in ihrer choreografischen Arbeit. Lin arbeitete als Tänzerin und Choreografin zunächst in Taiwan. Ihre Choreografien wurden unter anderem in Taipeh, Hongkong und in den USA gezeigt. 1991/1992 leitete sie das Ballett am Theater in Plauen, von 1997 bis 2002 war sie Ballettleiterin am Theater Dortmund. Daneben entstanden Tanzabende sowie zahlreiche Choreografien für Oper, Operette, Musical und Schauspiel für die Theater in Augsburg, Bielefeld, Innsbruck, Kaiserslautern, Linz, die Oper Leipzig, das Schauspiel Leipzig, die Staatsoperette Dresden, die Oper Toulon und die Oper Göteborg. Lins Choreografie für Isaac Albéniz’ Oper Merlin am Teatro Real Madrid (Regie John Dew) wurde von der BBC aufgezeichnet.
Ab Spielzeit 2004/2005 war sie Direktorin des Tanztheaters am Staatstheater Darmstadt. Mit ihren Stücken Das Haus der Bernarda Alba, The Juliet Letters – Briefe an Julia, Last Minute sowie ihre tänzerische Interpretation von Shakespeares Macbeth erhielt sie überregionale Aufmerksamkeit. Die Erfolgsoper Ainadamar von Osvaldo Golijov, die mit einem Grammy Award ausgezeichnet wurde, gelangte 2007 in Darmstadt in Mei Hong Lins spartenübergreifender Inszenierung zur europäischen Erstaufführung. Im Musiktheater folgten die Inszenierungen von Jesus Christ Superstar, Carmen und Glucks Orfeo ed Euridice. Unter ihrer Leitung wurde das Tanztheater des Staatstheaters Darmstadt als erste Tanzcompagnie außerdem eingeladen, die Tanztheatersaison am Forum Leverkusen in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu eröffnen: 2007 mit Vergissmeinnicht und 2008 mit Hôtel du Nord.
Das Tanztheater Darmstadt wurde mit Mei Hong Lins Tanztheaterversion von Carl Orffs Carmina Burana, einem weiteren spartenübergreifenden Projekt, zu einer Gastspielreise nach Frankreich eingeladen. Mit Schwanengesang gastierte es am National Theater in Taipeh im Rahmen des 2010 Taiwan International Festival.
Der Höhepunkt der Spielzeit 2010/2011 war neben dem Tanztheaterabend Blind Date die Uraufführung von Mei Hong Lins Tanzstück Die Brautschminkerin, in dem sie sich auf sehr persönliche Weise mit der Geschichte ihres Heimatlandes Taiwan auseinandersetzte. Mit dieser Produktion wurde sie 2011 für den deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie Choreografie nominiert. Ebenfalls für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie Choreografie nominiert wurde Mei Hong Lins im November 2011 uraufgeführte Neuinterpretation von Romeo und Julia.
Mit der Spielzeit 2013/2014 hat Mei Hong Lin die Ballettdirektion am Landestheater Linz in Oberösterreich übernommen. Am Staatstheater Darmstadt trägt sie weiterhin die künstlerische Verantwortung für die Tanzsparte und wird mit Camille ein neues Tanzstück für Darmstadt kreieren. Am Landestheater Linz wird sich die neue Kompanie mit drei Tanzstücken vorstellen und eine weitere Schaffensperiode in Mei Hong Lins künstlerischer Laufbahn einleiten.
MUSIKALISCHE LEITUNG Nebojša Krulanović
CHOREOGRAFIE/INSZENIERUNG Mei Hong Lin
MUSIK Michael Erhard
BÜHNE/KOSTÜME Thomas Gruber
CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ/
TRAININGSLEITUNG Leonardo Barbu
DRAMATURGIE Sarah K. Schäfer/Ira Goldbecher
AUSSTATTUNGSASSISTENZ Christian Schmidleithner
BALLETTKORREPETITION Stefanos Vassiliadis
INSPIZIENZ Susanne Pauzenberger
PROJEKTION Barbara Aumüller
HUGO Sven Gettkant
Sakher Almonem
Damián Cortes Alberti
Wout Geers
Daniel Morales Pérez
Alexander Novikov
Matej Pajgert
Geoffroy Poplawski
Pavel Povrazník
Jonatan Salgado Romero
MARIE Rie Akiyama
Mireia González Fernández
Sabra Johnson
Andressa Miyazato
Sabine Prokop
Anna Štĕrbová
Ilja van den Bosch
ZERFALLENE MARIE Julio Andrés Escudero
BARBE Nuria Gimenez Villarroya
MARIETTE Mireia González Fernández
NONNEN/SCHWÄNE/DÄMONEN Rie Akiyama
Sakher Almonem
Damián Cortes Alberti
Wout Geers
Sabra Johnson
Andressa Miyazato
Daniel Morales Pérez
Alexander Novikov
Matej Pajgert
Geoffroy Poplawski
Pavel Povrazník
Sabine Prokop
Jonatan Salgado Romero
Anna Štĕrbová
Ilja van den Bosch
Musiker
KLAVIER/ KEYBOARD Nebojša Krulanović
SAXOFON Thomas Mandel
KONTRABASS Enes Seferovic
CELLO Maria Lydia Mayr
KLARINETTE Michael Drankewitsch
SCHLAGZEUG Andreas Luger
Weitere Termine am 1., 12., 16., 23., 25. und 27. Oktober